Das „Ostarbeiter-Kinderheim“ in Wiemersdorf (1943/45)
als Beispiel für eine „Ausländerkinder-Pflegestätte“ in Schleswig-Holstein

von Uwe Fentsahm

Wiemersdorf gehört zu denjenigen Gemeinden in Schleswig-Holstein, denen es sehr schwerfällt, ihre nationalsozialistische Vergangenheit angemessen aufzuarbeiten: Im Jahre 2006 wurde im Gebäude der Verwaltung des Amtes Bad Bramstedt-Land eine vom Dorfarchivar Klaus Harder zusammengestellte Ausstellung mit dem Titel „865 Jahre Dorfgeschichte Wiemersdorf“ gezeigt. Leider fehlten die berühmten 12 Jahre NS-Geschichte. Das veranlasste die Segeberger Zeitung in ihrem Bericht über die Ausstellung zu einem deutlichen Kommentar: „Bei der Ausstellung über die Geschichte Wiemersdorfs kommt die braune Ära nicht vor. Bei der vorher gezeigten Chronik von Großenaspe war es genauso. Zufall? Wohl kaum.“ Der Kommentator endet mit den Worten: „… aber diese zwölf Jahre dürfen nicht fehlen. Verdrängen, verschweigen oder vergessen: das ist keine Lösung.“[1]

 

Die Erschlagung des Bürgermeisters im Juli 1945

Ursächlich für dieses Verhalten scheint in den meisten Fällen das Vorhandensein eines besonders dramatischen Ereignisses im Ort während der Zeit des Nationalsozialismus zu sein[2]: In Wiemersdorf war es die Erschlagung des NS-Bürgermeisters Hans Schümann in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945. In den Jahrzehnten danach gab es immer wieder Gerüchte und Spekulationen über dieses Ereignis. Hinter vorgehaltener Hand wurde kolportiert, dass der Bürgermeister von ehemaligen Zwangsarbeitern aus Polen erschlagen worden sei. Über die Motive dieser jetzt DPs (Displaced Persons) genannten Personen machte man sich keinerlei Gedanken. Diese Tat wurde allein als gewalttätiger Racheakt abgetan. Aber Rache wofür?

Dieses Ereignis wurde auch in der Schulchronik von Föhrden-Barl vermerkt. Der Chronist, Lehrer Wilhelm Mohr, schrieb im Juli 1945: „Am 14. dieses Monats ereignete sich im benachbarten Wiemersdorf eine schwere Bluttat. Als der in der ganzen Umgegend beliebte ehemalige Amtsvorsteher, Bürgermeister und Sturmführer der S.A. Hans Schümann mit seinem Sohne in den ersten Morgenstunden vom Felde heimkehrte, wurden sie von etwa 15 Polen aufgelauert und verfolgt. Mit Gewalt drangen die Verfolger darauf in das Haus, in das die beiden Bedrängten geflüchtet waren, zertrümmerten dem Vater mit der Axt die Schädeldecke, durchstachen ihm die Schlagader am Halse, so dass der Tod bald eingetreten sein muss. Die Stubeneinrichtung wurde von den Polen kurz und klein geschlagen. Der Sohn musste im schwerverletzten Zustande ins Krankenhaus gebracht werden. Vier Haupträdelsführer der Polen wurden verhaftet und nach Segeberg abgeführt. Da man einen Überfall der Polen auf das Leichenbegängnis [für Hans Schümann] befürchtete, musste dieses durch bewaffnete Engländer beschützt werden.“[2a] Wilhelm Mohr machte hier keinerlei Angaben zu den Hintergründen, bzw. zu den Motiven, die ehemalige Zwangsarbeiter aus Polen damals veranlassten, in Wiemersdorf so ein Verbrechen zu begehen.

Im Jahre 2013 veröffentlichte Hans-Otto Wittorf sein Buch „As de Tommys keemen“ und Karl-Heinrich Delfs berichtete darin über Wiemersdorf: „Unser Bürgermeister bis Kriegsende, Hans Schümann, wurde von den polnischen Zwangsarbeitern mit seiner eigenen Axt erschlagen, als er sich gegen ein Verprügeln wehren wollte. Die Rache galt ihm, weil er unter den Fremdarbeitern geborene Säuglinge in ein Ziegeleigebäude unter schlechten hygienischen Bedingungen unterbringen ließ, wobei mehrere Todesfälle durch Typhus zu beklagen waren.[3] Das war ein deutlicher Hinweis auf die Existenz eines besonderen „Kinderheims für ausländische Kinder“ in Wiemersdorf. Aus der Sterbefallanzeige für den Bauern Hans Willi Schümann geht hervor, dass er am 12. Juli 1945 im Reservelazarett Bad Bramstedt verstorben ist.[4] Die Urkunde wurde aufgrund einer mündlichen Anzeige durch den Lehrer Wilhelm Hünemörder ausgefertigt. Als Todesursachen werden hier eine „Impressionsfraktur des Schädels“ und eine „Stichverletzung im Gesicht“ genannt. Schümann könnte also tatsächlich mit einer Axt erschlagen worden sein. Über den Lehrer Hünemörder heißt es weiter: „Der Anzeigende ist dem Standesbeamten bekannt. Er ist von dem Sterbefall aus eigener Wissenschaft unterrichtet.“ Diese Formulierung lässt vermuten, dass der Lehrer die Erschlagung des Bürgermeisters miterlebt hat.

In dem Buch von Wittorf befindet sich eine weitere sehr erhellende Textstelle über diesen Vorfall in Wiemersdorf: „Ein Bauer aus Wiemersdorf hatte [in der unmittelbaren Nachkriegszeit] nicht so viel Glück. Er wurde von schlecht behandelten Fremdarbeitern erschlagen. Aber das ist eine andere Geschichte, bei der Wiemersdorfer Bauern Schuld auf sich geladen haben.“[5] Mehr erfährt der interessierte Leser an dieser Stelle leider nicht. Inzwischen hat sich der (ehemals) für Wiemersdorf zuständige Pastor Bernd Hofmann (Bad Bramstedt) mit den damaligen Geschehnissen befasst und machte sie am Volkstrauertag 2017 zum Hauptbestandteil seiner Predigt in Wiemersdorf. Vom Hamburger Abendblatt wurde Hofmann mit den Worten zitiert: „In der Gemeinde Wiemersdorf ist diese Geschichte mit einem Schock aufgenommen worden.“[6] So groß kann der Schock aber nicht gewesen sein, er hat jedenfalls nicht dazu geführt, dass die Gemeinde sich umgehend um die Aufarbeitung der örtlichen Ereignisse während der Zeit des Nationalsozialismus bemüht hätte. Inzwischen (im Jahre 2022) ist die Situation eine andere: Es gibt Einwohnerinnen und Einwohner (u.a. Ute Adam und Frank Starrost), die sich sehr engagiert an der historischen Aufarbeitung der damaligen Ereignisse beteiligen.

 

Der Einsatz von Zwangsarbeitern in Wiemersdorf (1939 -1945)

Wiemersdorf war im Jahre 1939 ein überwiegend landwirtschaftlich geprägtes Dorf mit 715 Einwohnern. Von den 195 Haushaltungen waren 96 landwirtschaftliche Betriebe, 44 davon in einer Größenordnung von 20 bis 100 ha Betriebsfläche.[7] Aufgrund der neuerdings besser zugänglichen Unterlagen der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) sind wir ziemlich genau darüber orientiert, welcher Bauer in Wiemersdorf in der Zeit des zweiten Weltkrieges Arbeitskräfte aus dem Ausland eingesetzt hat.[8] Entsprechende Anträge mussten beim Arbeitsamt in Neumünster gestellt werden und dann erhielt man nach einiger Zeit Bescheid darüber, dass die entsprechenden Kräfte aus Neumünster (seit 1942 aus dem Durchgangslager des Arbeitsamtes in der Lindenstraße in Wittorf) abgeholt werden könnten.

Auf diese Art und Weise hat Wilhelm Steffens vom Hof 3 (81 ha, Bahnhofstraße 39) mindestens 20 Arbeitskräfte erhalten. Es handelte sich um 11 Frauen, 8 Männer und ein dreijähriges Kind.[9] Die zweitmeisten Arbeitskräfte sind an die Meierei Wiemersdorf (Großenasper Weg 1) unter der Leitung von Wilhelm Glindemann vermittelt worden. Es handelte sich um (mindestens) 11 Männer und 3 Frauen.[10] Auf dem Hof von Gustav Schlesselmann (Hof 12, Assbrook 14, 57 ha) wurden nachweislich mindestes 6 Zwangsarbeiter und 2 Zwangsarbeiterinnen eingesetzt.[11] Auf den beiden Höfen von Gustav Oppermann (Hof 2, Bahnhofstraße 50, 46 ha und Hof 5, Großenasperweg 34, 31 ha) waren es ebenfalls 8 Arbeitskräfte, und zwar 5 Männer und 3 Frauen, darunter eine Mutter mit einem gerade erst in der weißrussischen Heimat geborenen Säugling.[12] Außer den bisher Genannten gab es noch drei Bauern mit jeweils 6 Arbeitskräften, insgesamt waren in Wiemersdorf in der Zeit des Nationalsozialismus nachweislich mindestens 99 ausländische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt. Genauere Angaben sind über eine zusätzliche Auswertung des Einwohnermelderegisters der Gemeinde möglich.

 

Der Standort des "Ostarbeiter-Kinderheimes" und die "Kinderpflegerinnen"

© Uwe Fentsahm (Brügge, Juni 2020)


[1] Segeberger Zeitung vom 11. April 2006 (S.27). Auch in der 1994 erschienenen Chronik „Unser Wiemersdorf“ (Schriftliche und mündliche Überlieferungen aus der Vergangenheit des Dorfes und von den Dorfbewohnern während der früheren Zeiten, zusammengestellt von Willi Oppermann) befindet sich keine zusammenhängende Darstellung der Entwicklung des Ortes von 1933 bis 1945.

[2] In Mühbrook (bei Bordesholm) wurden am 15. April 1945 zwei Häftlinge erschossen, die sich auf einem sogenannten „Evakuierungsmarsch“ von Hamburg-Fuhlsbüttel nach Kiel-Hassee ins „Arbeitserziehungslager“ befanden. Die Gemeinde Mühbrook verweigert bis heute das Aufstellen einer Gedenktafel für dieses Ereignis. Vergleiche hierzu den Bericht von Alexandra Bury im Holsteinischen Courier vom 7. April 2017. In Alveslohe (bei Kaltenkirchen) verweigerte die Gemeindevertretung die Aufstellung eines Gedenksteines für einen polnischen Zwangsarbeiter, der von einem Dorfbewohner im Januar 1945 denunziert worden war, ins „Arbeitserziehungslager“ Kiel-Hassee gebracht wurde und dort am 7. Februar 1945 verstarb. Vergleiche hierzu den Artikel in der Segeberger Zeitung vom 12. Oktober 1995.

[2a]  Wilhelm Mohr: Schulchronik von Föhrden-Barl, S.84, online gestellt von Jens-Uwe Schadendorf unter http://www.alt-bramstedt.de/schulchronik-von-foehrden-barl

[3] Karl-Heinrich Delfs: Erinnerungen Kriegsende 1945, in: Hans-Otto Wittorf: „As de Tommys keemen“, Norderstedt 2013, S.101.

[4] Standesamt Wiemersdorf (jetzt Bad Bramstedt-Land): Sterbefallanzeige Nr.60/45.

[5] Günter Kruse: Erinnerungen an Jahre des Grauens, der Angst und der Hoffnung, in: Hans-Otto Wittorf: „As de Tommys keemen“, Norderstedt 2013, S.58.

[6] Burkhard Fuchs: „Die Opfer sollen nicht vergessen werden“, in: Hamburger Abendblatt (Regionalteil Norderstedt) vom 25. Januar 2018.

[7] Ergebnisse der Volks-, Berufs- und landwirtschaftlichen Betriebszählung 1939 in den Gemeinden, Statistik des Deutschen Reichs, Band 559, Heft 7.

[8] Die entsprechenden AOK-Unterlagen sind (bedingt) online einsehbar im Archiv des Suchdienstes ITS in Bad Arolsen unter https://collections.arolsen-archives.org/search/ Es muss lediglich der Suchbegriff „Wiemersdorf“ eingegeben werden.

[9] Arolsen Archives Nr. 10003636 und Stadtarchiv Neumünster, Akten 3125 und 4683.

[10] Arolsen Archives Nr. 10003631 und Stadtarchiv Neumünster, Akten 3125 und 4683.

[11] Arolsen Archives Nr. 10003618 und Stadtarchiv Neumünster, Akten 3125 und 4683.

[12] Arolsen Archives Nr. 10003618 und Stadtarchiv Neumünster, Akten 3125 und 4683