Eine Rast nördlich von Neumünster

Transportführer Hennings hatte in diesem Zusammenhang lediglich eingeräumt, dass es nördlich von Neumünster am frühen Nachmittag des 14. April bei einer Rast auf einer Koppel zu einem Zwischenfall gekommen sei. Die Gefangenen waren in der Mitte der Koppel versammelt und die Wachmänner bildeten eine Kette um die Gruppe, die aus der unmittelbaren Nachbarschaft mit Wasser versorgt werden sollte. Plötzlich kam es unter den Gefangenen zu einem Streit, die Wachmänner sprangen auf und prügelten auf die Gefangenen ein. Hennings will dazwischen gegangen sein und die Gemüter beruhigt haben. Weiter habe es keine Disziplinarmaßnahmen gegeben. Es sei zwar möglich, dass beim Verlassen des Rastplatzes zwei oder drei Häftlinge zusammen mit einem Wachmann zurückgeblieben sind. Doch dies sei nur geschehen, um den Platz zu säubern und den Anwohnern die geborgten Wasserbehälter zurückzubringen. Anschließend seien die zurückgebliebenen Personen der Kolonne gefolgt und hätten diese auch bald wieder erreicht. Dr. Block beeilte sich noch mit dem Hinweis: „No shooting took place, especially no shooting of a member of an Allied Nation.“[73]

Aus der Sicht des damals mitmarschierenden Häftlings Schulz gestaltete sich der Zwischenfall allerdings etwas anders: Er konnte zwar auch bestätigen, dass es einen Streit gegeben hatte, denn zwei Russen seien wegen eines Brotstückes aneinander geraten. Doch anschließend sei einer der Beteiligten separiert worden und Hennings, Hahn und ein SS-Mann seien mit ihm allein zurückgeblieben. Hennings hätte die Kolonne als erster wieder erreicht, dann sei der SS-Mann gefolgt und zwei Schüsse seien zu hören gewesen. Anschließend wäre Hahn als Letzter zu der wieder in Bewegung befindlichen Kolonne gestoßen. Diese Aussage würde inhaltlich ziemlich genau zu den oben genannten Erinnerungen der Frau Oetting passen. Doch das Gericht orientierte sich lieber an den Aussagen der Anwohner Ostwald und Timmermann, die der Gruppe bei der Rast auf der Koppel Wasser zur Verfügung gestellt hatten. Nach Ansicht von Dr. Block hätten diese beiden glaubhaft versichert, „that certainly no shots were fired there, that no prisoner either was shot of this column“. Der durch die Aussage des ehemaligen Häftlings Schulz schwer belastete Johann Hahn konnte oder wollte sich an den Streit um das Stück Brot nicht erinnern und ist auch vom Gericht nicht weiter damit behelligt worden.[74] Durch den Anwohner Heinrich Ostwald, der vor Gericht erscheinen und aussagen musste, konnte der Rastplatz genauer lokalisiert werden: Es handelte sich um eine Koppel westlich der Reichsstraße 4, genau gegenüber dem Haus von Ostwald, und bis zum Bahnhof in Einfeld musste noch ein km Wegstrecke zurückgelegt werden.[75] Der Tatort Wendtweg (heute Industriestraße) liegt dagegen etwas weiter nördlich, in einer Entfernung von 500 Metern zum Einfelder Bahnhof.

Gesicherte Erkenntnisse gibt es darüber, wo die (beiden) Gruppen ihre dritte Nacht verbracht haben: Johann Hahn war der Kolonne nach eigener Aussage vorausgeeilt und hatte in Mühbrook bei dem Bauern Schurbohm eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Hierbei erscheint es zunächst etwas merkwürdig, dass das Quartier nicht direkt an der Reichsstraße 4 gewählt wurde. Es ist aber anzunehmen, dass der „Hauptquartiermeister“ Hans Stange mit seinem Motorrad noch vor Hahn in Mühbrook war und als Erster Kontakt mit der Familie Schurbohm aufgenommen hat. Stange muss sich hier relativ gut ausgekannt haben, denn sein Geburts- und früherer Wohnort war Flintbek (nördlich von Bordesholm an der R4). Vielleicht war ihm der Bauer Schurbohm sogar persönlich bekannt.

Wilhelm Hennings war allerdings mit dem Quartier nicht zufrieden, denn die Schurbohmsche Scheune war für die Gruppe viel zu klein: „Owing to the fact that the prisoners were squeezed [gedrängt] in this small barn, later on I took approximately thirty prisoners out and accommodated [unterbringen] them in an oposite building which was a big stall; it was a nice and large stable. There was very clean straw there and there was plenty of room, and there accommodated these thirty prisoners.“[76] Der Besitzer dieser vermeintlich geeigneten Unterbringungsmöglichkeit war aber (anscheinend) vorher nicht gefragt worden.

Es handelte sich um den Bauern Lütje, der im Dorf Mühbrook auch für die Bewachung eines aus Franzosen bestehenden Kriegsgefangenenarbeitskommandos zuständig war. Hinrich Lütje war nach eigener Aussage am Abend des 14. April auf dem Weg zu seinem Wachdienst, machte zuvor aber noch einen Rundgang über seinen Hof. Dabei musste er feststellen, dass sein Schweinestall mit Häftlingen und SS-Männern belegt war: „Daraufhin war ich nicht einverstanden und suchte den Transportführer [Hennings], den ich auch auf dem Nachbarhof [Schurbohm] gefunden habe. Ich erklärte ihm, daß der Schweinestall kein Aufenthaltsort für Menschen wäre und daß er sich auf jeden Fall zuerst bei mir hätte melden sollen. Er fragte mich darauf um weiteres Quartier und ich bot ihm meinen Strohboden an, wo[rauf]hin auch die Häftlinge dort untergebracht wurden. 2/3 des ganzen Transportes befand sich jedoch in der Scheune des Nachbarbauers, diese übersiedelten dann auch auf meinen Strohboden.“[77]

Mühbrook (Sonntag, 15.April 1945)

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[73] Abschlussplädoyer von Dr. Block für Hennings, in: WO 235/411 (S.15) und Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.54).

[74] Befragung von Hahn, in: WO 235/409 (S.119).

[75] Aussage von Heinrich Ostwald, in: WO 235/409 (S.87).

[76] Befragung von Hennings, in: WO 235/409 (S.54).

[77] Aussage von Hinrich Lütje am 22.5.1947 in Einfeld vor 2. Lieut. C.R. Freud, in: WO 309/1154.