Einige nachdenkliche Fragen zum Abschluss

1. Warum hat Wilhelm Hennings den Transport von Fuhlsbüttel nach Kiel nicht vorzeitig aufgelöst? Hennings wusste, dass „der Feind“ vor den Toren Hamburgs stand. Er konnte unterwegs beobachten, dass die Häftlinge in einer sehr schlechten körperlichen Verfassung waren. Die Versorgung der Marschteilnehmer war unzureichend, mehrere Fluchtversuche wurden unternommen und allmählich war auch das Wachpersonal immer weniger bereit seinen Anordnungen zu folgen. Was hätte also näher gelegen, als das ganze Unternehmen „im gegenseitigen Einvernehmen“ abzubrechen? Hennings war der Ansicht, dass er (persönlich) während des gesamten Marsches keinerlei strafbare Handlung begangen habe. Trotzdem hatte er bei seiner Vernehmung in Munsterlager zu Protokoll gegeben: „Ich war Transportführer und als solcher für den Transport verantwortlich. Folgendessen auch für alle Ereignisse, die auf dem Marsch nach Kiel vorgekommen sind.“ Die Übernahme von Verantwortung orientierte sich bei ihm einseitig auf seine Vorgesetzten und leider nicht auf das Wohlergehen der Häftlinge.

2. Inwieweit ist die Vorgehensweise der englischen Besatzungsbehörden und der Militärgerichtsbarkeit zu kritisieren? Aus heutiger Sicht ist es sicherlich schwer verständlich, warum die Beschuldigten alle in Munsterlager zusammengefasst worden sind und sie somit die Möglichkeit hatten ihre Aussagen abzusprechen. Problematisch erscheint auch das einseitige Interesse des Gerichts am Tod von Angehörigen der alliierten Nationen: Welche Erkenntnisse hätten zusätzlich gewonnen werden können, wenn der Tod von Deutschen oder Österreichern genau so intensiv verfolgt worden wäre? Die Vorbereitung des Prozesses durch die War Crimes Investigation Unit kann dagegen positiv bewertet werden, da sie sehr umfassend und intensiv war: So sind die Ermittler z.B. von Hamburg nach Itzehoe und Einfeld gefahren und haben Augenzeugen vor Ort befragt.

Die Aussagen von Häftlingen sind nicht überbewertet worden, sie wurden einer kritischen Prüfung unterzogen und dementsprechend im Verlauf des Prozesses berücksichtigt. Als Beispiel kann die schriftliche Anzeige von Harry Breckenfelder dienen: Er beschuldigte Johann Hahn, in Mühbrook zwei Häftlinge erschossen zu haben. Es habe sich bei den Ermordeten um einen Amerikaner und einen Franzosen gehandelt. Die Leichen seien anschließend in eine Mistgrube geworfen worden: „Hahn ist ein fanatischer Nationalsozialist und Antisemit, der schon vor Erlass der Nürnberger Gesetze die Juden aus dem von ihm verwalteten Grundstück, Hamburg Schäferkampsalle 28, hinauswarf.“[96] Wenn das Gericht diesen Ausführungen Glauben geschenkt hätte, dann wäre Johann Hahn sicherlich nicht mit 10 Jahren Gefängnisstrafe davongekommen.

Auf der anderen Seite hat der Verfasser den Eindruck gewonnen, dass das britische Militärgericht in erster Linie an Aussagen von Deutschen interessiert war, die als „nichtbeteiligte“ Anwohner den Vorbeimarsch oder den Aufenthalt der Häftlingsgruppen beobachtet haben oder als Amtspersonen (z.B. Polizisten) mit den Vorfällen konfrontiert worden waren: Die Aussagen von Stanislaus Barglinski (Polizist in Bordesholm), Hinrich Lütje (Bauer in Mühbrook), Elise Oetting (Anwohnerin in Einfeld), Gottlieb Philippczyk (Friedhofsgärtner in Einfeld) und Karl Höppner (Polizist in Einfeld) wurden von einem Mitarbeiter der War Crimes Group besonders hervorgehoben: „The statements of these witnesses are directly implicating the accused Hahn and Hennings. I therefore suggest to include them in the report and call the witnesses to give evidence during the trial.“[97] Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob das Gericht auch hinsichtlich der von den Zeugen vorgelegten Aussagen immer die notwendige quellenkritische Distanz gezeigt hat.

3. Was wäre aus Willi Tessmann, Wilhelm Hennings und Otto Schütte geworden, wenn der Prozess erst zwei oder drei Jahre später stattgefunden hätte? Die vorzeitigen Entlassungen von Stange, Hahn, Oehl und Burmeister belegen, wie sich die politische Grundhaltung der Besatzungsmächte in diesen Jahren, d.h. in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, gewandelt hat. Die Verfolgung von Kriegsverbrechen wurde deutschen Gerichten übergeben,[98] und im „Kampf gegen den Bolschewismus“ waren die Wiederbewaffnung und der Beitritt Deutschlands zur NATO keine Tabuthemen mehr. Für die rechtsextremistischen Kräfte in Deutschland waren diese Todesurteile daher Ausdruck einer nicht gerechtfertigten „Siegerjustiz“. In der in Norwegen herausgegebenen „Deutsche(n) Wochenzeitung“ Nr. 42 vom 10. Oktober 1975 wurden in dem Artikel „Das grauenhafte Geheimnis von Hameln“ alle in Hameln Hingerichteten namentlich aufgelistet, unter ihnen auch Willi Tessmann, Wilhelm Hennings und Otto Schütte.[99]

Zurück zum Inhaltsverzeichnis


[96] WO 309/1105.

[97] WO 309/967 (S.71).

[98] Vgl. dazu insbesondere Herbert Diercks: Die Wachleute des KZ Fuhlsbüttel ab 1948 vor Gericht, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 3, 1997, S.75 ff.

[99] Die letzte Hinrichtung fand in Hameln am 6.12.1949 statt. Die Ausgabe der Deutsche(n) Wochenzeitung von 1975 ist auch im Internet zu finden.