Konzentrationslager-Aussenkommando 

H o h w a c h t [1]

 

Im letzten Drittel des 2. Weltkrieges, als die Siegeszüge der Wehrmacht bereits fast überall gestoppt waren und die Niederlage Deutschlands eingeleitet war, gelangten die „fliegende Bombe V1“ und die weltweit erste Fernrakete „V2“ zur Serienreife. Zu der anspruchsvollen Technologie dieser nationalsozialistischen „Wunder- und Vergeltungswaffen“ gehörten die Navigationselemente nach der Kreiseltechnik. Weltweit führend auf diesem Gebiet war die Kieler Firma Anschütz & Co., die bereits seit den 20er Jahren in Kiel Kreiselkompasse für die Schiffahrt herstellte und von der Freundschaft zwischen dem Firmengründer Anschütz und dem genialen Physiker Albert Einstein - der zeitweise bei Anschütz in Kiel gearbeitet hatte - nicht nur technologisch profitierte.

Bis Juni 1944 suchte die SS in allen großen deutschen Konzentrationslagern von Frankreich bis Polen nach Fachkräften unter den KZ-Häftlingen, die im Konzentrationslager Buchenwald (Weimar) zu einem internationalen Spezialkommando zur Herstellung von Raketen-Steuerungselementen zusammengezogen wurden. Die technische Leitung oblag Anschütz-Ingenieuren, die Bewachung des Geheimprojektes der SS.

Nach der Zerstörung Peenemündes war die Raketenproduktion bereits in das unterirdische KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen am Harz verlegt worden. Im August 1944 wurden - fast auf den Tag genau gleichzeitig - die militärischen Produktionsstätten der Firma Anschütz, die FWN-Werke in Kiel sowie die Werkstätten im KZ Buchenwald durch Spreng- und Brandbomben bzw. Luftminen der Alliierten vollständig zerstört. Das Arbeitskommando überlebte.

Ein zunächst beabsichtigter Einsatz des ANSCHÜTZ-KZ-Arbeitskommandos in den Bergwerksstollen des KZ Mittelbau-Dora wurde verworfen, weil die feinmechanischen hochempfindlichen Kreiselgeräte in den staubigen und feuchten Stollen nicht zu produzieren waren. Luftwaffe, Arbeitsfront, SS, Gestapo und Anschütz beschlossen, die Kreiselproduktion für die „Geheimwaffen“ in das gerade erst fertig gestellte Barackenlager der Luftwaffe für Flug-Abwehr-Kanonen-Ausbildung auf einem ca. 89.600 Quadratmeter großen Grundstück der Stadt Lütjenburg mitten in der Gemeinde Hohwacht zu verlegen. Weitab von einer größeren Stadt oder einem Industriegelände, von hohen Bäumen umgeben, in rein ländlicher Gegend zwischen Seen und Hügeln am Ufer der Ostsee war das Lager auf natürliche Weise hervorragend getarnt.

Nach einer dreiwöchigen Quarantänezeit im KZ Neuengamme (Hamburg) traf das im KZ Buchenwald ausgebombte KZ-Zwangsarbeitskommando am 16.November 1944 in Güterwaggons auf dem Bahnhof der Kleinstadt Lütjenburg ein und marschierte von Wehrmachtssoldaten eskortiert nach Hohwacht. Beim  „Abschied“ im KZ Neuengamme hatte die SS den gepeinigten 200 Männern die Parole mit auf den Weg gegeben: „Auch dort, wo ihr jetzt hinkommt, seid ihr keine Menschen!“

 

Das Lager Hohwacht  - am Strand der Ostsee gelegen
(hier in räumlicher Darstellung)

 

Die überwiegend jüngeren KZ-Häftlinge aus zwölf verschiedenen Ländern - alle politische Häftlinge - darunter 100 Franzosen, 30 bis 40 Menschen aus dem Bereich der damaligen Sowjetunion, 13 Deutsche und Österreicher sowie Angehörige anderer Nationen - waren im Zivilberuf u.a. Elektro-Ingenieure, Elektro-Techniker, Radio-Techniker, Feinmechaniker, Technik-Studenten, Dreher, Fräser, Tischler usw.. Am Lagertor in Hohwacht erkannten sie den Leitenden Ingenieur der Firma ANSCHÜTZ aus dem KZ Buchenwald wieder und auch ihre 26-köpfige SS-Wachmannschaft unter dem Kommando des SS-Hauptscharführers Gätjens .

Das Lager war zweigeteilt: Dreiviertel des Geländes bestand aus Produktions-, Verwaltungs- und Zivilbaracken, die auch zur Unterbringung von Anschütz-Angestellten und der bis zu 400 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus dem Ausland dienten. Im südöstlichen Viertel, zwischen der Ringstraße und der Lütjenburger Landstraße, war das Konzentrationslager Hohwacht eingerichtet. Es bestand aus zwei typischen RAD-Baracken ohne fließendes Wasser für je 100 KZ-Häftlinge des Gerätebaukommandos sowie der gegenüberliegenden Baracke für die 26 SS-Männer der KZ-Wachmannschaft. Die obligatorischen Appelle fanden zwischen der SS-Kommandobaracke und den beiden Häftlingsbaracken auf der südlichen Ringstraße statt.

 

Der Aufbau des Lagers Hohwacht (Grundrisszeichnung des Geländes)

 

Bis zum Januar 1945 gelang es der Firma Anschütz nach eigenen Angaben, in diesem ausgelagerten Rüstungsbetrieb (namens „Feinmechanische Werke Neumühlen-Dietrichsdorf, FWN, Betrieb Hohwacht“) mit der bis zu 700-köpfigen Belegschaft, bestehend aus spezialisierten Zivilisten, ca. 300 ausländischen Zwangsarbeitern und 200 besonders ausgebildeten KZ-Häftlingen, einen Teil der Kreiselproduktion für das sogenannte “A4-Programm“ (die „V2“) aufzunehmen.

Nach den Erfahrungen aus Kiel und Buchenwald ging stündlich die Angst vor einem vernichtenden Bombenangriff um. Luftschutzbunker oder -räume gab es nicht. Die Häftlinge arbeiteten überwiegend in der unbeheizten großen Montagehalle. Sie besaßen keine Winterkleidung, nur den gestreiften Häftlingsanzug, Fußlappen und Holzpantoffeln. Ende März 1945 setzte die verheerende Hungersnot ein. Anfang April krochen die Lagerinsassen über das Gelände, sammelten einige frühe Weinbergschnecken ein und rissen alles Unkraut bis auf Armeslänge außerhalb des Lagerzaunes heraus. Der Himmler-Befehl: „Kein KZ-Häftling darf lebend in die Hände der Feinde fallen“ drang als Gerücht zu ihnen durch. Sie mußten damit rechnen, vor Eintreffen der Briten erschossen zu werden. Außerdem wurde ihnen von der SS damit gedroht, daß sie am zur Trocknung der Löschschläuche genutzten „Feuerwehrgalgen “ aufgehängt werden könnten.

Nach einem dramatischen Disput zwischen der SS und der Anschütz-Lagerleitung,  nach der Befreiung Buchenwalds am 11.April, verständigte man sich darauf, die Häftlinge nicht zu erschießen, sondern am 20.April 1945 zunächst aus Hohwacht in Richtung Kiel zu evakuieren. Ihre Befreiung erfolgte schließlich  zwischen dem 5. und 15.Mai 1945 teilweise in Rathmannsdorf am Nord-Ostsee-Kanal, am zerbombten Kieler Hauptbahnhof und aus dem Gefängnis der Stadt Neumünster.

Eine nicht genau zu ermittelnde Anzahl von Häftlingen kam während oder kurz nach der Befreiung ums Leben. An einige der Opfer sei erinnert :

·     der 35 Jahre alte Franzose Reiny Gache starb am 25.Februar 1945 auf einem Kolonnenmarsch zwischen Hohwacht und Lütjenburg.

·     der Deutsche Otto Scherzer, Mitte 40, wurde nach Angaben der SS am 12.April 1945 auf der Flucht aus dem KZ Hohwacht erschossen.

·     der ukrainische Parteisekretär Aleksei A. Gribanow erlitt bei der Evakuierung am 2.Mai 1945 bei Rathmannsdorf einen Herzschlag, als ihm von Hitlers Tod berichtet wurde.

·     drei Häftlingsschicksale sind aufgrund der letzten Quartalsmeldung des Neuengammer SS-Standortarztes vom 25.März 1945 ungeklärt.

·     Nach Zeitzeugenberichten starben noch  „mehrere“ namenlose Häftlinge kurz nach der Befreiung an den unmittelbaren Folgen der erlittenen Hungersnot.

·     die niederländische Kaltmamsell der Lagerküche Hohwacht, Martine Greve,  wurde nach einer Militärgerichtsverhandlung von den Briten als Gestapo-Agentin erschossen.

·     die Zahl der möglichen Todesopfer unter den Zwangsarbeitern ist zur Zeit noch unbekannt.

Der Projektleiter, Leitender Ingenieur, Oberst und SS-Obersturmbannführer in einer Person,  bewegte sich nach Kriegsende als freier Mann in Neumünster und auch alle anderen militärischen und zivilen Führungskräfte des Hohwachter Lagers haben - jedenfalls ist nichts anderes bekannt - von kleinen „Entnazifizierungs-Schikanen“ abgesehen, ohne nennenswerte Strafen überlebt.

Von den 200 KZ-Häftlingen sind inzwischen 30 durch KZ-Zeitzeugenaussagen namentlich bekannt. Listen wurden nicht gefunden. Von den vermutlich bis  zu 400 Zwangsarbeitern sind die vom Ober-Lagerführer Hans Radecke geführten Namenslisten der Lagerinsassen bis zum 31. März 1945 gefunden worden, nachdem die Gemeinde Hohwacht ihr Archiv am 13.08.2001 (!) erstmals für eine Suche geöffnet hat. Sie enthalten die Namen von 317 Frauen und Männern aus 10 Nationen (hauptsächlich Polen, „Ost“, Frankreich,  Italien, Holland und Lettland ).

 

Eine erste Auswertung der neu aufgefundenen Listen

 

Die letzte Baracke des Lagers wurde 1967 abgebrochen. Nur der Straßenbelag im ehemaligen KZ-Viertel (Ringstraße) ist noch im Originalzustand. Unterhalb der bewaldeten Steilküste findet man noch die Kläranlagen des Lagers. Im übrigen ist das Gelände vollständig überbaut.

 

Ein Schreiben der Gemeinde Hohwacht vom 14.04.1981

 

Erst am 7. November 1999, 55 Jahre nach der Errichtung des Lagers, erstellte die Gemeinde Hohwacht nach langem und intensivem politischen Druck von außen unter unerfreulichen Begleiterscheinungen und als letzte der von einem KZ betroffenen Kommunen des Landes Schleswig-Holstein ein Hinweistäfelchen von 30 mal 40 Zentimetern Größe am Rande des ehemaligen Lagergeländes.

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Hohwacht, im Februar 2003       Bernd Romig


    Weitere Informationen, Berichte, Fotos, Dokumente usw. zum Lager Hohwacht  sind willkommen.


[1] Der nachfolgende Text ist in ähnlicher Form auch in den "Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte" (hrsg. vom AKENS), Heft 38 (Oktober 2000), S.88ff. erschienen. Hier handelt es sich um eine überarbeitete und aufgrund neuer Quellenfunde ergänzte Fassung des Textes (vgl. insbesondere die Zahlenangaben).