Das polnische Militär- und "DP"-Lager Sehberg [1]

(Juni 1945 bis September 1947)

von Karsten Dölger (Plön)

Bei einem Gang über den Friedhof von Flemhude westlich von Kiel erregen einige der Ausländergräber mit polnischen Inschriften und Hoheitszeichen die besondere Aufmerksamkeit. Im Beerdigungsbuch der Kirchengemeinde Flemhude ist jeweils ergänzend zu den vier Namen eingetragen, es habe sich um polnische Soldaten aus dem Lager Sehberg gehandelt. Die Sterbedaten liegen alle mehrere Monate nach Kriegsende: Ludwik Plotnicki (gest. 13. Oktober 1945), Konstanty Zwidryn (gest. 10. November 1945), Kazimierz Pierzchala (gest. 22. Juni 1946) und Józef Kiecok (gest. 5. Juli 1946). Pierzchala, der älteste, wurde 34 Jahre, Kiecok, der jüngste, gerade 23 Jahre alt. Die Fragen, die diese Gräber aufwerfen, lassen sich nur zu einem kleinen Teil aufklären.

Auf dem Sehberg bei Schönwohld in der Gemeinde Achterwehr hatte bei Kriegsende eine Flakstation mit einigen Baracken als Unterkünften bestanden. Nach Kriegsende wurden diese Unterkünfte frei gemacht. Jan Wierzbinski und Helena Szulinska, beide ehemalige polnische Häftlinge deutscher Konzentrationslager und seit Juni im benachbarten Lager Jägerslust untergebracht, berichten, im Lager Sehberg sei im Juni 1945 eine Unterkunft überwiegend für befreite polnische Kriegsgefangene des Septemberfeldzuges von 1939 gegen Polen eingerichtet worden. In welchen Lagern diese polnischen Soldaten und Offiziere den Krieg verbracht haben, muß offen bleiben. Das früheste erhalten gebliebene schriftliche Dokument, das auf die Existenz dieses Lagers verweist, ist eine Quittung des Flemhuder Pastors vom 24. Oktober 1945.[2] Pastor Eydam bestätigt eine Zahlung des "polnischen Militärlagers Sehberg" über RM 300,- für die Pflege des Grabes von Ludwik Plotnicki. Mit diesem Betrag und den auflaufenden Zinsen wollten die polnischen Soldaten auf lange Sicht die Pflege des Grabes ihres elf Tage zuvor verstorbenen Kameraden sichern, denn sie selbst hofften, bald in ein freies Polen zurückkehren zu können.

Die "Jutrzenka", eine hektographierte Lagerzeitung des polnischen Zivillagers Jägerslust, berichtet in ihrer Weihnachtsausgabe von 1945, Oberleutnant Stefan Bolechowski vom "I. Bataillon" aus dem Lager Sehberg sei zum Kommandanten des Polnischen Zivillagers Jägerslust ernannt worden. Diese Ernennung entsprach einer gängigen Praxis der britischen Besatzungsmacht, die in den ersten Nachkriegsmonaten häufig Offiziere in den polnischen Zivillagern für befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter als Kommandanten einsetzte. Eben diese "Jutrzenka" berichtet am 3. Januar 1946 mit einer kleinen Notiz vom Weihnachtsfest 1945 im Lager Sehberg: "Am Tag des heiligen Festes wurde im P.O.W. [Prisoners of War]-Lager in Sehberg ein Krippenspiel aufgeführt, ausgearbeitet von Leutnant Kruszynski, der trotz hochbetagten Alters und schlimmer Erlebnisse im KZ mit jugendlicher Energie zu kulturell-bildender Arbeit antrat. In jenem Lager in Sehberg fand eine Silvester-Revue statt und später ein Tanzvergnügen. Besondere Beachtung verdiente der Chor der Reveille, der dem ganzen Abend Glanz verlieh. Oberleutnant Eichelkraut in der Rolle des Ansagers: phantastisch! Dies kann man keinesfalls von dem zweiten Ansager behaupten, dessen `Witze´ in Bonmots über die ach so witzig von ihm bezeichneten `Jägersluster Schweinediebe´ übergingen. Nun, aber das ist Geschmackssache." Daß der Autor dieser Zeilen, ein Redakteur der Jutrzenka aus dem Lager Jägerslust, diese Hinweise auf das Problem der Nachkriegskriminalität wenig originell fand, ist verständlich.

Quellen aus den Aktenbeständen der britischen Besatzungsmacht werfen im August 1946 wieder ein Licht auf die Vorgänge im Lager. Zu diesem Zeitpunkt gab es einen handfesten Konflikt zwischen den Briten und den polnischen Soldaten. Bei Kriegsende hatte die Sowjetunion die von ihr abhängige Provisorische Regierung in Warschau installiert. Die bei Kriegsausbruch nach der Besetzung Polens durch das nationalsozialistische Deutsche Reich und die Sowjetunion nach London geflüchtete polnische Exilregierung hatte während des Krieges die Briten unterstützt und beanspruchte, einzige rechtmäßige Regierung Polens zu sein. Um nach Kriegsende die Gegensätze zwischen den Großmächten nicht weiter zu schüren, hatte Großbritannien die Provisorische Regierung in Warschau anerkannt und der Exilregierung in London eben diese Anerkennung entzogen. Besonders unter den polnischen Einheiten, die während des gesamten Krieges auf der Seite der Briten gekämpft hatten, war die Verbitterung über diesen Schritt groß. In ein Polen, das unter sowjetischem Einfluß stand, wollte von ihnen fast niemand zurückkehren. Aber bereits diese Verweigerung der Repatriierung konnte zu einer Verstimmung der Sowjetunion führen, und so versuchten die Briten Druck auf die Polen in den Lagern auszuüben, um sie zur Heimkehr zu bewegen.

Im Lager Sehberg reagierten die Briten ausgesprochen empfindlich auf von der Lagerleitung ausgestellte Dokumente, die zeigten, dass man versuchte, sich eigene Autorität anzumaßen und sich damit auch britischer Weisungsbefugnis zu entziehen.[3] Mit diesem Vorgehen versuchten die Polen ihre Unzufriedenheit darüber zum Ausdruck zu bringen, daß ihnen das Selbstbestimmungsrecht nicht mehr gewährleistet schien. Wohl auch aus diesen Gründen hatten die Briten bereits im Juli 1946 beschlossen, die zu diesem Zeitpunkt noch 9500 in Schleswig-Holstein befindlichen polnischen Soldaten in wenigen Lagern ihrer Besatzungszone zu konzentrieren. So wurde auch das Lager Sehberg am 28. Juli 1946 geräumt und die polnischen Soldaten in das Großlager nach Wentorf bei Hamburg verlegt. Im Gegenzug dafür wurden 430 polnische Zivilisten, "Displaced Persons", auf den Sehberg geschickt. Diese bei Kriegsende befreiten Zwangsarbeiter, Zwangsarbeiterinnen und Konzentrationslagerhäftlinge kamen am 8. August 1946 um 14.20 Uhr auf dem Bahnhof von Melsdorf an.[4] Damit waren für die Briten die Probleme aber keineswegs gelöst, denn im Juli des folgenden Jahres wurde die zuständige britische Stelle von der Repatriierungsmission der neuen polnischen Regierung in Warschau aufgefordert, den Leiter des Lagers Sehberg, Lewandowski, den für das Lager zuständigen polnischen Pfarrer Mieczyslaw Filipowicz und einen weiteren Bewohner aus dem Lager zu entfernen. Alle drei wurden der "Antirepatriierungspropaganda" bezichtigt. Sie hatten sich offenbar gegen eine Rückkehr in das kommunistische Polen ausgesprochen und damit auch andere Lagerbewohner beeinflußt.[5] Ob die Briten diese Aufforderung befolgten, läßt sich nur für den Pfarrer beantworten. Filipowicz, der allerdings im Nachbarlager Jägerslust untergebracht war, blieb und wanderte 1950 nach Baltimore in den USA aus.

Ein weiteres Problem war die vom Lager ausgehende Kriminalität. Dabei handelte es sich um die typischen Vergehen der Nachkriegszeit: Diebstahl von Nahrungsmitteln, Schwarzmarktdelikte, Schwarzbrennerei aber auch Gewaltverbrechen. Eindeutig auf das Lager Sehberg läßt sich eine mit Schwarzmarktgeschäften in Zusammenhang stehende Gewalttat zurückführen. Im November 1946 waren auf einem Acker in Felde Leichenteile des polnischen Unteroffiziers Garbatzki aus dem Lager Sehberg gefunden worden. Dieser Mord konnte nie vollständig aufgeklärt werden.[6] Weil auch die Identität des Opfers erst Wochen nach dem grausigen Fund geklärt werden konnte, hat Garbatzki im Gegensatz zu den oben genannten Verstorbenen des Lagers Sehberg nie einen Grabstein auf dem Friedhof von Flemhude bekommen. Eine Gesamtbewertung der Kriminalität läßt sich für das Lager Sehberg angesichts der mangelhaften Quellenlage nicht vornehmen. Bei einer Beurteilung aus historischer Perspektive sind allerdings die allgemeine Mangelsituation nach dem Kriege, die Unterdrückung der Polen während der deutschen Besatzung Polens und die Demütigungen und der Hunger während der Zeit der Zwangsarbeit und in den Konzentrationslagern in Deutschland zu berücksichtigen. Nie ganz auszuschließen ist auch, daß die Beschuldigungen durch die deutsche Bevölkerung eigene Verstöße gegen die Zwangsbewirtschaft von Nahrungsmitteln verschleiern sollten.

Die Auseinandersetzungen um die DP-Kriminalität im Sommer 1947 trugen dann auch zur Schließung des Lagers bei. Sowohl der Kreistag des Landkreises Rendsburg als auch der Landtag übten erheblichen Druck auf die Briten aus, stärker auf das Problem zu reagieren. Eigene historische Verantwortlichkeiten wurden in diesen Debatten ausgeblendet.[7] Die Schließung Sehbergs kann als ein Zugeständnis der Briten angesichts des enormen öffentlichen Drucks gedeutet werden. Da die politische Entwicklung in Polen die Repatriierungszahlen aber sinken ließen, war an eine vollständige Schließung der polnischen "DP"-Lager nicht zu denken. Bei 477 Bewohnern ließen sich im Oktober 1946 gerade 14 Lagerbewohner, im November 52 und im Dezember noch 13 repatriieren. Im extrem harten Eiswinter 1946/1947 wurden die Repatriierungsfahrten über die Ostsee zwischen Lübeck und Stettin mit der "Isar" für viele Monate vollständig eingestellt.[8]

So wurden die 180 im September 1947 im Lager Sehberg verbliebene Polen in das polnische DP-Lager Wrangelkaserne in Rendsburg überstellt.[9] In die Baracken auf dem Sehberg zogen deutsche Flüchtlinge ein.[10] Heute erinnert auf dem Sehberg nichts mehr an das Barackenlager.

Karsten Dölger, Oktober 2001

 

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[1] Sehberg: Gemeinde Achterwehr, Kreis Rendsburg-Eckernförde, gelegen zwischen Russee und Schönwohld an der ehemaligen B 202.

[2] Archiv der Kirchengemeinde Flemhude

[3] Prisoners of War &Displaced Persons Branch Kiel an 312 Headquarters, Control Commission for Germany, 30. August 1946, Public Record Office (Kew/London), FO 1006/290.

[4] Move of DP`s from Wentorf, 31. Juli 1946, PRO, FO 1006/290.

[5] PW & DP Branch Kiel an Relief Detachmanet Preetz, 220 HQ, 29. Juli 1947, PRO, FO 1006/545.

[6] Schleswig-Holsteinische Landeszeitung, Rendsburg, 5. Oktober 1967.

[7] Protokoll der Kreistagssitzung des Kreises Rendsburg vom 7. August 1947 und Wortprotokoll der 3. Sitzung des ersten gewählten Schleswig-Holsteinischen Landtages vom 4.-6. August 1947.

[8] Repatriation, United Nations Archives, New York City, PAG - 4/3.0.11.2.0.2.: Box 112.

[9] Area Officer`s Visits to DP Camps Rendsburg Area, 25 September 1947, PRO, FO 1006/566.

[10] So findet sich bei den Akten des Schulamtes Rendsburg ein Hinweis auf die Lagerschule Sehberg, an der am 8. September 1948 der Lehrer Galow tätig war, der 108 Kinder zu unterrichten hatte; Landesarchiv Schleswig, Abt. 320 Rendsburg, Schulamt Nr. 216.