Das Gutachten des IZRG erhebt den Anspruch, neue Fakten für die regionale Forschung zu liefern. Es soll
- eine vollständige Dokumentation des regionalhistorischen Forschungsstandes,
- eine möglichst umfassende Dokumentation des Aktenbestandes für Schleswig-Holstein,
- eine wissenschaftlich abgesicherte Statuserhebung zur Ausländerbeschäftigung mit möglichst präzisen Zahlen und Daten
- sowie exemplarische Studien über spezifische Fragestellungen und ausgewählte Regionen des Landes enthalten.
Im Folgenden soll überprüft werden, inwieweit die ersten drei Ansprüche umgesetzt worden sind. Auf eine detaillierte Besprechung der anderen Gutachtenteile wird verzichtet.
Der selbst gewählte Anspruch auf Vollständigkeit birgt natürlich ein großes Risiko in sich, das dann auch bei der Erfassung der Literatur sofort "zugeschlagen" hat. Die Liste erfüllt weder den Anspruch auf Vollständigkeit, noch ist sie in sich logisch nachvollziehbar:
- Es werden nur einige der im Gutachten enthaltenen Staatsexamens- und Magisterarbeiten erwähnt.
- Die in den Beiträgen zitierte Literatur erscheint nur teilweise: Wo bleibt z.B. der Artikel von Klaus Alberts: "Gedenkstätte Gudendorf", der im Gutachten auf S.393 erwähnt wird, aber in der Literaturliste nicht zu finden ist.
- Aus den bereits 1984/85 erschienenen Sammelbänden werden einige Artikel genannt, andere entfallen dafür. Horst Peters: "Einsatzort Neumünster" aus "Verschleppt zur Sklavenarbeit" [9] wird aufgenommen, der Bericht über "Erweitertes Krankenrevier Heidkaten" von Gerhard Hoch fehlt dagegen ebenso wie der Artikel von Rolf Schwarz über "Das Stammlager XA". Jürgens Andres: "Fremdarbeiter in Eckernförde" (in: "Vergessen + Verdrängt" [10]) taucht in der Literaturliste auf, während Wilfried Göbels Bericht über die sowjetischen "Kriegsgefangenengräber in Alt Duvenstedt" (auf der nachfolgenden Seite desselben Sammelbandes) vergessen wird.
- Die Publikation von F. Littmann über Zwangsarbeiter in Hamburg findet Erwähnung [11], während die Veröffentlichung von Gerhard Hoch über französische Kriegsgefangene in Hamburg nicht aufgelistet wird [12]. Dafür wird aber die Arbeit desselben Autors über französische Kriegsgefangene in Kiel genannt.
Weitere Beispiele ließen sich anführen; dieser Teil des Gutachtens erweckt eher den Eindruck des Zufälligen, denn der gründlichen Recherche. Er erfasst noch nicht einmal den Stand der 1985 von M. Knäuper und D. Korte erstellten Bibliographie zum Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein. Der Anspruch der Vollständigkeit wird sich für diesen Bereich auch nicht realisieren lassen, da ein kompletter Zugriff gerade auf die ausländischen Publikationen unmöglich sein dürfte. Dieser Zugriff ist jedoch auch nicht probiert worden.
Auch die Zielvorgabe einer möglichst umfassenden Quellendokumentation ist bei weitem nicht erreicht worden: "Bezogen auf die gewählten Suchwege können wir den Anspruch der internen Vollständigkeit erheben", heißt es auf S.24 des Gutachtens. Was auch immer diese Formulierung bedeuten soll - gerade die geschilderten Suchwege weisen in Bezug auf die erfassten Aktenbestände Lücken auf. Es sind weder die Akten zum geplanten Barackenbau noch die Akten zur Erteilung von Schankkonzessionen in Barackenlagern oder die Polizeiakten durchgängig berücksichtigt worden. Es fehlen z.B.
- LAS Abt.320 RD ungeordnet, Bündel 483, vorläufige Nr.5 (Pläne der Kriegsmarine-Werft in Kiel zum Bau von Barackenlagern in Neumünster-Einfeld und in Bordesholm; Pläne der Deutschen Werke Werft in Kiel zur Errichtung von Barackenlagern in Raisdorf, Flintbek, Boksee, Wankendorf, Klein Barkau und Wattenbek.)
- LAS Abt.320 RD ungeordnet, Bündel 37, Nr.905 (Antrag der Deutschen Werke Werft in Kiel auf Genehmigung eines Kantinenbetriebs im Lager Wattenbek, mit detaillierten Lageplänen und Gebäudegrundrissen.)
- LAS Abt.320 Plön, Nr.3012 (Antrag der Deutschen Werke Werft in Kiel auf Genehmigung eines Kantinenbetriebs im Lager Boksee, mit detaillierten Lageplänen und Gebäudegrundrissen.)
- LAS Abt.320 Plön, Nr.3078 (Antrag der Baugesellschaft Kiel auf Genehmigung eines Kantinenbetriebs im Gemeinschaftslager "Elmschenhagen-Ost".)
- LAS Abt.320 Plön, Nr.3137 (Streng geheimer Antrag der Feinmechanischen Werke Neumühlen in Kiel auf Genehmigung eines Kantinenbetriebs im Lager Hohwacht, Gemeinde Neudorf.)
- LAS Abt.320 Plön, Nr.3223 (Antrag der Deutschen Werke Werft in Kiel auf Genehmigung eines Kantinenbetriebs im "Ostarbeiter-Lager" Raisdorf-Rosensee, mit detaillierten Lageplänen und Gebäudegrundrissen.)
- LAS Abt.320 Segeberg, Nr.224 (Nach Orten sortiert wird hier für den Kreis Segeberg im April 1941 die Anzahl von rund 2200 ausländischen Arbeitskräften aufgelistet.)
Die Formulierung, dass möglicherweise "in anderen Provenienzen noch weitere, aus der ehemaligen Provinz Schleswig-Holstein stammende Vorgänge und Akten zu finden sind", kann nur mit der mangelhaften Erfassung der Quellenbestände durch die Gutachter erklärt werden: So werden beispielsweise aus dem Landesarchiv in Schleswig die Justizabteilungen 351, 352 und 357 gar nicht genannt, obwohl sie mehrere Hinweise auf Zwangsarbeiter enthalten und somit "andere Provenienzen" im oben genannten Sinne darstellen. Aus der Abteilung 410 wird zwar im Gutachten zitiert [13], sie findet aber in der Quellenzusammenstellung keine Berücksichtigung.
Einen weiteren Anspruch meinen die Verfasser erreicht zu haben: "Denn entgegen der in regionalhistorischen Publikationen durchgängig zu lesenden Aussage, man könne keine genauen Daten und Zahlen liefern, ist dieses ....... durchaus machbar." Dieser Aussage (auf S.37) widersprechen die Autoren jedoch selbst, indem sie schreiben:
- Es "kann der Anspruch auf exakte Zahlen nicht erhoben werden"(S.63),
- einen "relativ geringen unsicheren Anteil" gibt es (S.650),
- "das sichere Terrain" muss verlassen werden, um "die Gesamtzahl näherungsweise zu bestimmen."(S.69),
- die Autoren "gehen von einem Austauschfaktor 0,5 aus" (S.70),
- die "Fluktuation" wird angenommen (S.71) und
- es erscheint "eine hinreichend begründete Quantifizierung nicht möglich - und auch nicht sinvoll."(S.71)
Die Liste der Einschränkungen, Spekulationen und Vermutungen ließe sich durch weitere Beispiele ergänzen; sie ergibt allerdings nichts weiter als eine Bestätigung, dass genaue Zahlen und Daten doch nicht erfasst werden können. Die ca. 225.000 für Schleswig-Holstein genannten Kriegsgefangenen, ausländischen KZ-Häftlinge und "Fremdarbeiter" (S.71) können nicht als "exakte und präzise" Antwort (S.37) oder "präzise Daten" (S.648) gelten. Sie sind nichts weiter als eine sehr grobe Schätzung, die anschließend kritisch beleuchtet wird.
[9] Siehe Anmerkung 3 im 1.Teil dieser Rezension.[10] Ebd., Anmerkung 7.
[11] Der Aufsatz von F. Littmann: Das Ausländerreferat der Hamburger Gestapo, in: Ebbinghaus u.a., "Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg". Bevölkerungs - und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984 wird dagegen nicht in der Liste genannt.
[12] Zeitschrift des Vereins für Hamburger Geschichte, Band 78, Hamburg 1992, S.209-233.
[13] Vergleiche die Beiträge von M. Oddey und J. Tillmann-Mumm.