b) Fehlende Kenntnisse über den Einsatz der Kriegsgefangenen

Bei der Ermittlung der entsprechenden Zahlen stützen sich die Verfasser des Gutachtens zum einen auf die Quelle "Arbeitseinsatz im (Groß-)Deutschen Reich" [20] und zum anderen auf die Meldungen des Oberkommandos der Wehrmacht an das Internationale Rote Kreuz.

Zu dieser Quellengruppe muss zunächst eine Richtigstellung in eigener Sache erfolgen: Auf Seite 39 wird unter Vermerk 5 darauf hingewiesen, dass Rolf Schwarz diese Bestände im Bundesarchiv in Freiburg bereits 1985 ausgewertet hätte und sie irrtümlicherweise als nach dem Krieg verfasste und weniger zuverlässige Auflistung dargestellt hätte. Die Zahlen aus "Verschleppt zur Sklavenarbeit" (S.34) stammen aus einer Liste, die durch die Wehrmachtsauskunftstelle (WAST) in Berlin 1984 aus verschiedenen Quellen für die Herausgabe des Buches erarbeitetet wurde. Dieser Sachverhalt wurde auch in der dazugehörenden Anmerkung 24 (S.58) korrekt wiedergegeben. Die Bestände in Freiburg wurden nicht benutzt.

Im Gegensatz zur Vorgehensweise im Gutachten wurden diese Zahlen aber hinterfragt, indem z.B. auf die Widersprüchlichkeit von einzelnen Belegungszahlen im Vergleich mit einigen Personenkennnummern von Kriegsgefangenen hingewiesen wurde. Jeder Soldat erhielt nach seiner Gefangennahme im Stammlager (Stalag) eine Kennnummer, die der Verwaltung und der Korrespondenz mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) diente. Obwohl im Monat August 1942 für das Stalag XA in Schleswig lediglich ein Bestand von 37.848 Gefangenen gemeldet wurde, hatte der Vertrauensmann aus dem Kommando in Eckernförde-Borby bereits die Personennummer 64.300. Im Eidelstedter Kommando 1349 besaß der Vertrauensmann am 26.8.1944 die Kennnummer 99.268, die Anzahl der Kriegsgefangenen des Stalag XA betrug am 1.9.1944 insgesamt aber nur 69.472.

Wiederum im Gegensatz zum Gutachten wurde von mir deutlich darauf hingewiesen, dass die Angaben der WAST keine Ermittlung einer Gesamtbelegungszahl ermöglichen. Aus nicht erklärbaren Gründen befand sich bei einem (der als Fotokopie in meinem Besitz befindlichen) Besuchsberichte des IKRK im Anhang eine Aufstellung der Gefangenenzahlen des Stalag XA. Die dort genannten Zahlen weichen erheblich von den Informationen der WAST ab:

[Wenn Sie hier klicken, erhalten Sie genaue Zahlenangaben über
die Belegung des Stammlagers XA (Schleswig) im März 1944.]

Bei der abgebildeten Tabelle [21] könnte als Erklärung für die große Differenz zwischen 20.322 Franzosen aus der OKW-Meldung vom 1.4.1943 und den 17.631 aus der Meldung aus Schleswig die Nichtberücksichtung der Hamburger Kommandos dienen. Leider decken sich die Besuchsdaten des IKRK selten mit den im Gutachten genannten, so dass ein Vergleich nicht sinnvoll wäre.

Der Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis X teilte schon am 16.8.1940 mit, dass im Bereich X.A.K 60.000 Gefangene in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Im Dezember 1940 wurden 12.000 flämische Kriegsgefangene, die sich zum Großteil in Schleswig-Holstein und dem Emsland befanden, zurückgezogen und sollten durch Franzosen ersetzt werden.[22] Wie viele Gefangene waren nun bis zu diesem Zeitpunkt in Schleswig-Holstein tätig? U. Danker berücksichtigt bei der Berechnung der Kriegsgefangenenzahlen den Zeitraum vor dem 1.9.1941 überhaupt nicht.

Die Kriegsgefangenen verblieben nicht alle in Gefangenschaft, darauf weist das Gutachten ausdrücklich hin. Ein Teil von ihnen wurde in ein ziviles Arbeitsverhältnis überführt. Sie wurden jedoch auch aus dem Stalag XA in Kriegsgefangenenlager verbracht, die außerhalb Schleswig-Holsteins lagen - und umgekehrt. Darüber besitzt das Zentralmuseum der Kriegsgefangenen in Lambinowice-Opole entsprechende Transportlisten für polnische Kriegsgefangene bis einschließlich 1944. Durch diesen Austausch erhöht sich natürlich die Gesamtzahl der zeitweilig im Land eingesetzten Gefangenen.[23]

Zum Einsatz der italienischen Militärinternierten ("Kriegsgefangenen") erklärt U. Danker: "Mit diesen in ihrer Gesamtzahl von 24.000 auf 2.000 fallenden, kurzfristig anwesenden italienischen Insassen allein erklärt sich der Anstieg und Abfall der Belegungs- und Arbeitszahlen des Stammlagers XA zwischen Mitte 1943 und Ende 1944." (S.65) Er übersieht dabei für denselben Zeitraum, dass die Anzahl der polnischen Kriegsgefangenen um ca. 1.300, die der sowjetischen um ca. 10.000 steigt.

Anhand eines längeren Zitates aus dem Gutachten sollen noch einmal die Unwägbarkeiten der Zahlenmeldungen an das Internationale Rote Kreuz belegt werden: "Jedoch ist quellenkritisch zu beachten, dass nicht alle Kriegsgefangenen des Lagers XA tatsächlich in Schleswig-Holstein beschäftigt wurden. Ein geringerer Teil 'pendelte' beispielsweise nach Hamburg. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es auch umgekehrte Pendeleffekte etwa im lauenburgischen Raum gab, wenn zum Beispiel in der Dynamitfabrik Geesthacht Kriegsgefangene aus dem Stammlager XB Sandbostel arbeiteten. Zwar kann so der Anspruch auf exakte Zahlen nicht erhoben werden. Gleichwohl ist es aufgrund der geographischen Struktur des Kriegsgefangenenlagers XA und seiner Nebenstellen sowie aufgrund der zweiseitigen Pendeleffekte durchaus zulässig davon auszugehen, dass die in Diagramm 15 wiedergegebenen Daten den Zwangsarbeitseinsatz Kriegsgefangener in Schleswig-Holstein ziemlich genau wiedergeben." (S.63 )

Zu diesem Versuch eine Unkenntnis wegzuschreiben, seien einige Anmerkungen gestattet:

  • In der Anfangsphase des Krieges wurden die Kriegsgefangenen für Norddeutschland ausschließlich vom Stammlager XA in Sandbostel verwaltet, das 1940 die Bezeichnung XB erhielt und im Juli 1940 ein Sammellager wurde. Zuständig für die Verteilung der Kriegsgefangenen waren jetzt die Stammlager XA - Schleswig - und XC in Nienburg.
  • Ab Herbst 1941 übernahm das Stammlager XB wieder Betreuungsaufgaben für Arbeitskommandos. Dem Stammlager XA verblieben die schleswig-holsteinischen Lager und einige Hamburger Kommandos, beispielsweise Bahrenfeld und Eidelstedt.
  • Der Großteil der Hamburger Kommandos war jetzt Sandbostel und nicht mehr Schleswig unterstellt. Diese Umstellung spiegelt sich übrigens in der Abnahme der Gefangenenzahlen um ca. 12.000 (vom 1.9.1941 bis zum 1.12.1941) wider. Diese Reduzierung wurde überwiegend durch die veränderte Zuständigkeit und nicht durch eine Überführung französischer, belgischer und polnischer Kriegsgefangener in den Zivilstatus erreicht, wie im Gutachten (S.65) behauptet wird.[24]
  • Von 1939 bis zum Herbst 1941 hatten ungefähr 150.000 Kriegsgefangene Sandbostel durchlaufen. Wie viele davon kamen nun nach oder aus Schleswig-Holstein?
  • Im Frühjahr 1943 erfolgte eine neue Zuschneidung der Zuständigkeiten. Die in der Literaturliste erwähnte Publikation über Sandbostel [25] erklärt auf Seite 24, dass die Hamburger Arbeitskommandos von Sandbostel nach Schleswig verlagert wurden und sich dadurch eine Verminderung der Gefangenenzahlen für Sandbostel um 14.000 ergab. Die Quelle hierfür stellt ein Schreiben des IKRK vom 2.10.1985 dar [26]. Diese Erhöhung spiegelt sich jedoch in den Belegungszahlen des Stalag XA nicht so stark wider, hier erfolgt lediglich eine Steigerung um 8.500. Die verwaltungsmäßigen Veränderungen im Wehrkreis X, die damit verbundenen Änderungen und Unklarheiten in den Belegungszahlen übersieht U. Danker.

Die oben aus dem Gutachten zitierte Aussage, dass Kriegsgefangene aus dem Stalag XB bei Dynamit Nobel in Geesthacht gearbeitet hätten (ein Quellennachweis hierzu fehlt), müsste durch die wechselnden Zuständigkeiten zeitlich genauer eingeordnet werden. Zusätzlich sei angemerkt, dass nach Aussage von Frau J. Ulrich - die über Geesthacht forscht - die dort eingesetzten Kriegsgefangenen dem Stalag XA unterstellt waren.

Neben den Meldungen an das IKRK benutzt U. Danker als weitere Quellen die Unterlagen des Reichsarbeitsministeriums und des Landesarbeitsamtes Nordmark. Die vom Landesarbeitsamt Nordmark erwähnten Zahlen umfassten neben Schleswig-Holstein aber auch Hamburg und Mecklenburg. Deswegen würde "lediglich auf ausdrücklich allein für Schleswig-Holstein vorliegendes Datenmaterial zugegriffen," betont U. Danker (S.38). Er greift für das Diagramm 14 trotzdem auf die Daten des Landesarbeitsamtes zurück, da auch "diese ... von Belang" seien (S.59). Eine Begründung für diese Vorgehensweise fehlt und dürfte wohl auch schwerfallen. Welche Aussagekraft soll dann das Diagramm 14 besitzen? Es zeigt die Verteilung von 86.803 Kriegsgefangenen aus Mecklenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein auf die verschiedenen Branchen. Zu diesem Zeitpunkt waren aber nur ca. 37.000 Gefangene in Schleswig-Holstein eingesetzt.

Die regionalisierte statistische Erfassung der Kriegsgefangenen durch das Reichsarbeitsministerium bricht 1942 ab, führt U. Danker weiter zum Diagramm 14 aus (S.59). Dann kann jedoch die Quellenangabe ("Der Arbeitseinsatz im (Groß-)Deutschen Reich") für die Diagramme 15 - 18 nicht stimmen und sollte korrigiert werden. Diese Diagramme beinhalten Informationen bis Ende 1944.

Zwei Hinweise sollen die Anmerkungen zum Einsatz der Kriegsgefangenen abschließen:

  • U. Danker übernimmt ohne Überprüfung die vom OKW benutzte Formulierung, dass der Großteil der Kriegsgefangenen "im Arbeitseinsatz" sei. Für seine Berechnungen benutzt er die Zahlen der "im Arbeitseinsatz" befindlichen Gefangenen. Hiermit wurde jedoch nur mitgeteilt, dass sich diese Gefangenen in Arbeitskommandos befanden. Es arbeiteten auch diejenigen, die z.B. in der Verwaltung des Lagers, bei der Paketverschickung oder als Sanitäter beschäftigt waren. Diese Zahl pendelte meistens um 1.000 Personen. Lediglich als 1941 plötzlich viele sowjetische Kriegsgefangene nach Schleswig-Holstein kamen, die krank oder noch nicht auf die Kommandos verteilt waren, erhöhte sich die Zahl der "Nichtarbeitenden" erheblich. Ähnliches gilt auch für die steigende Zahl der "Nichtarbeitenden" ab dem Sommer 1943.
  • Außer den in Arbeitskommandos beschäftigten Kriegsgefangenen existierten Kriegsgefangenen-Sondereinheiten, die wirtschaftlich und disziplinarisch nicht dem Stalag sondern dem Kommandeur der Kriegsgefangenen direkt unterstellt waren. Das Glaser-Bataillon, Bau- und Arbeitsbataillon und Dachdecker-Bataillon waren zwischen 1941 und 1944 zeitweise in Schleswig-Holstein eingesetzt.[27] Auch hierdurch stieg die Summe der in Schleswig-Holstein tätigen Kriegsgefangenen. U. Danker berücksichtigt diese Sondereinheiten nicht.

FORTSETZUNG 3c


[20] Siehe Abschnitt 3a dieser Rezension.

[21] Archiv de France Nr. F(9) 2717

[22] LAS Abt.320 Norderdithmarschen, Nr.2525 und 2526.

[23] Brief des Museums vom 9.11.2000. Für die Überlassung der entsprechenden Kopien spricht der Rezensent dem Museum seinen Dank aus.

[24] U. Danker gibt auf S.47 an, dass A. Hitler im Sommer 1942 einer Entlassung französischer Kriegsgefangener im Tauschprinzip zustimmte.

[25] Werner Borgsen, Klaus Volland: Stalag XB Sandbostel, Bremen 1991.

[26] Auf Nachfrage: Eine Mitteilung durch die Verfasser des Buches über Sandbostel, ebenda.

[27] G. Hoch: Französische Kriegsgefangene in Hamburg 1941-1945, a.a.O., S. 231f. und Wolfgang Vogt: Ortsregister der deutschen Kriegsgefangenen- und Internierungseinrichtungen im 2.Weltkrieg (Archiv Vogt).