Bei der Publikation handelt es sich um die Ergebnisse der von der AOK finanzierten Studie zur Zwangsarbeit und Krankheit in einem regionalen Bereich, in der leider die Frage nicht beantwortet wird, inwieweit die AOK selber Zwangsarbeiter beschäftigte.
a) Uwe Danker, Einführung in das Thema - Ausgangspunkt, Methode, Fragestellungen und Vorgehen (S.9-26)
Die Einführung leidet darunter, dass zu viele Statistiken und Zahlen präsentiert werden. Der vermittelte wissenschaftliche Eindruck lässt sich jedoch nicht halten, wie später am Beispiel der Quellen belegt wird.
Der Beitrag von Uwe Danker: "Wer einmal in die Mühlen der Zwangsarbeit geriet ... Zwangsarbeitende in Schleswig-Holstein 1939 bis 1945 - Ein Überblick" (S.27-42) stellt eine Zusammenfassung seiner Statuserhebung aus dem obigen Buch dar, auf die später Bezug genommen wird.
b) Annette Grewe geht in ihrem Beitrag "Krankheit als Alltag und Schicksal, Die medizinische Versorgung Zwangsarbeitender in Schleswig-Holstein" (S.43-92) anhand allgemeiner Erlasse und anhand von Aufzeichnungen der Krankenhäuser Heide, Uetersen, Tönning, Lauenburg sowie Kliniken aus Kiel der Frage nach, welche Aussagen zur Lebenssituation sich aus den Akten rekonstruieren lassen. Mit der Einschränkung, dass dem Rezensenten das benötigte medizinische Fachwissen fehlt und die Akten aus Bad Arolsen nicht allgemein zugänglich sind, erscheint der Beitrag einer der schlüssigeren in den Büchern zu sein. Kritisch angemerkt werden sollen:
1. Sinnvoller, wenn auch aufwändiger, wäre eine vergleichende Auswertung der Krankenaufzeichnungen der ausländischen und deutschen Patienten aus den selben Krankenhäusern. Der Vergleich des Krankenstandes der Zwangsarbeiter aus einigen Krankenhäusern mit der Krankenartenstatistik der deutschen Bevölkerung aus den Jahren 1937-1939 verdeckt vorhandene regionale Besonderheiten und verwischt Zeitunterschiede. Die Krankenartenstatistik wäre als 'drittes Standbein' der vergleichenden Auswertung sinnvoller gewesen.
2. Es gibt für Schleswig-Holstein mehr Aktenbestände zur ambulanten und stationären Versorgung von Ausländern, als es A. Grewe beschrieben und gleichzeitig bedauert hat.
3. Der Rezensent hätte sich außerdem bei der Darstellung der Krankheitsgeschichten die Berücksichtigung des Faktors Zeit gewünscht: Kann z.B. in Bezug auf Haut- und Hungererkrankungen - wie bei den Sterbefällen - ein gehäuftes Auftreten nach der Ankunft in Schleswig-Holstein und dann wieder zum Kriegsende hin festgestellt werden? Wenn diese Erkrankungen gehäuft nach der Ankunft in Schleswig-Holstein auftraten, so könnten die Zwangsarbeiter bereits krank oder geschwächt in Schleswig-Holstein angekommen sein. Die dem Rezensenten bekannten Krankenhausakten belegen derartige Vermutungen.
Angenehm fällt in der Darstellung auf, dass Grewe auf die Grenzen des Aussagewertes der benutzten Quellen immer wieder hinweist und auch Lücken in der Darstellung offen benennt.
c) Der Beitrag von Michael Ruck über die "Die Deutschen Krankenkassen im Dilemma"(S.93-101) enthält diesbezüglich eine allgemeine Beschreibung der Situation im NS-Staat. Für Schleswig-Holstein tauchen keinerlei Informationen auf.
d) Michael Dahl "...werden die Ostarbeiter in Zweifelsfällen erneut auf ihren Arbeitswillen und ihre Arbeitsfähigkeit praktisch überprüft".
Auf den Seiten 102-133 widmet er sich der Perspektive der staatlichen Behörden sowie der Krankenkassen. Von der Krankenversorgung, dem Ärztemangel, der Seuchenpolitik, der Arbeitsunfähigkeit, dem Rücktransport bis zur Ernährungsfrage bearbeitet er ein breites Feld. Dabei gelingt ihm unter Berücksichtigung des Umfanges seines Beitrages mit einigen Ausnahmen ein akzeptables Verhältnis zwischen den allgemeinen Anordnungen und Falldarstellungen aus Schleswig-Holstein. Im Zusammenhang mit der Aussage Dahls, dass die Krankenkassen durch die Rücksendung Kosten sparen wollten (Krankheit, S.126 und 137), wäre es zumindest notwendig gewesen zu erläutern, welche zwischenstaatlichen Regelungen und darauf fußenden Erlasse für die Rücksendung von Zwangsarbeitern im Krankheitfall galten. Diese Bestimmungen konnten durchaus zu Reibereien zwischen den Behörden führen. Bei der Rückkehr im Krankheitsfall hatten die Krankenkassen auf dem Rückkehrschein eine Zustimmung zu vermerken. Strittige Entscheidungen zwischen Arbeitsamt und Krankenkasse sollten vermieden werden.[1]
e) Frank Hetheys Aufsatz über "Zwangsarbeit und Krankheit" - Die Perspektive der schleswig-holsteinischen 'Volksgemeinschaft'(S.138-163) beginnt mit einer Erläuterung des Forschungsstandes, der Quellenlage und der methodischen Herangehensweise. Anschließend beschreibt er u.a. den Umgang mit dem 'Simulationsverdacht' bei Krankmeldungen und verfolgt die Frage, ob es einen Unterschied in der Behandlung der Zwangsarbeiter durch größere oder kleinere Arbeitgeber gab. Der Beitrag verdeutlicht die Probleme des in beiden Büchern betriebenen Forschungsansatzes. Es werden jeweils aus unterschiedlichen Landesteilen Beispiele ausgewählt. Die anschließende Darstellung erfolgt jedoch oft einseitig und ohne Berücksichtigung aller Quellen. Im geschilderten Beispiel über die Firma Tuchenhagen aus Büchen beschreibt Hethey die schlechten Lagerverhältnisse dort. Die Firma hätte aber dem Gesundheitsamt gegenüber die Errichtung eines neuen Lagers angekündigt. Abschließend bewertet er den Vorgang: "Immerhin zeigt der Umstand, dass die Firma Tuchenhagen mit dem Gesundheitsamt überhaupt Verbindung aufnahm, ein gewisses Maß an Kooperationsbereitschaft auch mit nachgeordneten staatlichen Stellen" (Krankheit, S.157). Die nicht ausgewerteten Akten der Gewerbeaufsicht (LAS 309/34655) zum selben Vorgang vermitteln einen anderen Ablauf des Vorganges und belegen, dass ein neues Lager errichtet wurde, was erwähnt werden müsste.[2]
f) Nils Köhler breitet auf den Seiten 164-192 "Krankheit in Schleswig-Holstein - Die Perspektive der Zwangsarbeitenden" aus. Seine Darstellung umfasst die Anwerbephase in den Heimatländern, die Lebenssituation in der Provinz bis hin zum Tod in Schleswig-Holstein. Problematisch erscheint, dass Köhler die Perspektive der Zwangsarbeiter aus Akten der 'Obrigkeit' rekonstruieren will. Aufgrund der politischen Veränderungen in Osteuropa und der sich damit bietenden neuen Forschungsmöglichkeiten ist es heutzutage unabdingbar, die dortigen Quellenbestände zu sichten. Mit Sicherheit wird man dort themenrelevante Zeitzeugenberichte und persönliche Dokumente finden, die unseren bisherigen Kenntnisstand in umfassender Weise ergänzen. Vermitteln doch die Berichte der Betroffenen Fragestellungen, die in den "Akten der Obrigkeit" gar nicht auftauchen.
g) Sebastian Lehmann: "Stärkste Befürchtungen, dass das Kind doch der Allgemeinheit zur Last fällt" - Schwangerschaft und Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein (S.193-221)
Je nach Quellenlage geht Lehmann verschieden intensiv den im Zusammenhang mit Schwangerschaft auftretenden Fragen nach. An einigen Stellen scheint es Lehmann weniger um Schleswig-Holstein denn um die Erlasslage zu gehen: "Neben den Entbindungsstätten mussten auch Kinderheime, so genannte >>Ausländerkinder-Pflegestätten<<, flächendeckend auch in Schleswig-Holstein eingerichtet werden."(S.220) Diese Aussage spiegelt die Erlasslage, aber nicht die Forschungsergebnisse von Sebastian Lehmann wieder, der die flächendeckende Verbreitung nicht nachgewiesen hat und noch nicht einmal die für Schleswig-Holstein bekannten "Pflegestätten" in Fussnoten erwähnt. Hier hätte die konkrete eigene Forschung ansetzen müssen, um weitere Fälle zu ermitteln oder bekannten Hinweisen nachzugehen und diese zu vertiefen. Es sei deshalb an dieser Stelle z.B. auf Gerhard Hoch verwiesen, der in seinem Beitrag über "Zwangsarbeiter in Elmshorn" auf derartige Einrichtungen in Elmshorn und Uetersen aufmerksam gemacht hat.
Im Zusammenhang mit der Weigerung von Ärzten, Schwangerschaftsabbrüche an Ostarbeiterinnen durchzuführen, bringt Lehmann einen Hinweis aus dem Gau Ost-Hannover: "Für Schleswig-Holstein jedoch ist kein einziger Fall überliefert." (Krankheit, S.218) Wie kann der Autor diese Aussage treffen, obwohl er - seinem Anmerkungsapparat entsprechend - praktisch keine Krankenhausarchive in Schleswig-Holstein besucht hat. Ist es fehlende Bescheidenheit oder einfach unüberlegte Formulierung? Sein Beitrag verweist auf ein unbearbeitetes Gebiet in der Zwangsarbeitsforschung in Schleswig-Holstein und bietet hierfür einige Anregungen.
h) Miriam Ströh: "Fleckfieber und Zwangsarbeit" (S.222-242)
Der Beitrag von Ströh beschreibt die Sorgen vor einer Ausbreitung von Fleckfieber und die deshalb getroffenen Schutzmaßnahmen. Durch die Nennung vieler Ortsnamen sollten die Lokalforscher die gelegten Spuren verfolgen und vertiefen. Berücksichtigen müssen sie jedoch, dass die gemeldeten und erfassten Erkrankungen in den Statistiken nicht mit der Realität in Schleswig-Holstein übereinstimmen. Die Zahlen liegen höher.
i) Mandy Jakobczyk: "Das Tuberkuloseproblem bei Zwangsarbeitern in Schleswig-Holstein" (S.243-272)
Von der Phase der 'Anwerbung', der 'Rückführung', der Errichtung der Krankenbaracken, der medizinischen Versorgung bis zum Arbeitseinsatz kranker Zwangsarbeiter beleuchtet die Verfasserin einzelne Aspekte des Themas. Sinnvoll wäre es gewesen, alle Informationen über das Rückkehrerlager Schülldorf bzw. das Hilfskrankenhaus Osterrönfeld aus den verschiedenen Beiträgen hier zusammenzutragen und auszuwerten. Weiterhin fehlt die Berücksichtigung der Hinweise aus der Statistik über die ärztliche Überprüfung der auf Grund der Verordnung vom 27.1.1943 (RGBL I. S.67) gemeldeten Personen. Diese Statistik, die in verschiedenen Ausgaben des 'Arbeitseinsatzes' (zum 'Arbeitseinsatz' siehe Anmerkungen zur Statuserhebung) veröffentlicht wurde, enthält u.a. nach Alter, Geschlecht und Krankheit aufgeschlüsselte Informationen auch zum Auftreten der TBC in Schleswig-Holstein. Auch Frank Hethey hätte für seinen Beitrag von diesen Informationen profitieren können.
Sowohl A.Grewe wie auch M.Jakobczyk arbeiten mit Daten über das Hilfskrankenhaus in Osterrönfeld. Die auf S.271 abgedruckte Übersicht verdeutlicht die Problematik der nicht frei zugänglichen Quellen. Die angegebenen 92 Todesfälle widersprechen anderen Veröffentlichungen und sind so nicht nachprüfbar. Auf der Basis einer Liste des Hilfskrankenhauses Osterrönfeld nennt Irene Dietrich[3] 89 Russen, 11 Polen , 2 Letten, 1 Niederländer und 1 Tschechen, die dort verstarben. Von den 12 Ausländern, die nach dem 8.5.1945 in Osterrönfeld verstarben, waren 10 vor Kriegsende dort eingeliefert worden. Während Jakobczyk insgesamt 599 Patienten angibt, sind es bei Grewe 604 (S.81). Diese unterschiedlichen Informationen hätten von beiden Autorinnen abgeglichen werden müssen, da nur sie die Nutzungsgenehmigung für Arolsen besaßen. Die Ausnahmegenehmigung hätte zu einer besonders gründlichen Quellenkritik und Überprüfung durch andere Unterlagen führen müssen.
j) Claudia Trüter: "Zwangsarbeitende in der Psychiatrie" - Die Landesheilanstalt Schleswig-Stadtfeld 1940 - 1945 (S.273-299)
Neben der Rückverschickung von psychisch erkrankten Ostarbeitern wurde ein Teil von ihnen in der Landesheilanstalt medizinisch betreut, bevor mit den Erlassen von 1944 der Abtransport in andere (vermutlich Tötungs-)Anstalten erfolgte. Diesen Aspekt beleuchtet Trüter mit den vorhandenen Krankenakten.
k) Nils Berger: "Der Einsatz von 'Fremdarbeitern' in der Krankenversorgung" (S.300-315)
Dieser Beitrag zeigt, dass sich auch Krankenhäuser ihrer Verantwortung stellen sollten, denn auch sie profitierten vom Einsatz der Zwangsarbeiter. Dieser Verantwortung stellen sich seit einiger Zeit die Kirchen und lassen dieses Kapitel ihrer Geschichte erforschen. Für Schleswig-Holstein liegt eine erste Untersuchung vor. [4]
l) "Fazit und Ergebnisse aus geschichtswissenschaftlicher Sicht" (Zwangsarbeit, S.572-587) und "Ergebnisse" (Krankheit, S.316-329)
Eine vernünftige Zusammenfassung fehlt in beiden Büchern; ein Abschnitt, der Ergebnisse "wissenschaftlicher" Studien vorstellt, sollte nun wirklich mehr beinhalten. Die Leistungen der Autoren bestehen im Wesentlichen im Bedienen der Kopiertaste des Computers; so tauchen beispielsweise die abschließenden Bemerkungen von Claudia Trüter fast wortwörtlich als Ergebnisse der Gesamtstudie erneut auf.
m) Aktenlage, Archivrecherche, Literaturauswahl
Beide Bücher enden mit der Dokumentation der Aktenlage und der Aktenrecherche sowie einem Literaturverzeichnis. Im Literaturverzeichnis des Buches "Krankheit" (S.333-338) erscheinen sinnvollerweise viele Hinweise zum Thema Krankheit. Wie im ersten Buch, erfasst das Literaturverzeichnis jedoch nicht den aktuellen Forschungsstand für Schleswig-Holstein.
[1] "In jedem Fall hat das Arbeitsamt darauf zu achten, dass auf dem Rückkehrschein der Vordruck über die Zustimmung der Krankenkasse ausgefüllt wird." Wenn die Krankenkasse zugestimmt hatte, erhielt der Ausländer "Leistungen der deutschen Krankenversicherung entweder von den deutschen Krankenkassen in den besetzten Gebieten oder von den einheimischen Krankenkassen auf Kosten der deutschen Krankenversicherung. ...... Die den ausländischen Krankenkassen durch die Leistungsgewährung entstehenden Kosten werden ihnen von den deutschen Trägern der Krankenversicherung erstattet." Hier spielte die beim Reichsverband der Ortskrankenkassen errichtete "Verbindungsstelle der deutschen Krankenversicherung" eine wichtige Rolle. Unter bestimmten Voraussetzungen sollten auch Familienangehörige, die sich im Ausland aufhielten, Krankenleistungen bekommen. Hierfür sollten die deutschen Versicherungsträger Pauschalsätze über die Verbindungsstelle zahlen. Bei diesen Regelungen gab es wiederum unterschiedliche Bestimmungen für die Nationalitäten. ("Die Sozialversicherung der ausländischen Arbeitskräfte" von Dr. Bogs, in: "Arbeitseinsatz und Arbeitslosenhilfe", Jahrgang 1944, Heft 1/4, S.3ff..) Inwieweit diese Bestimmungen umgesetzt wurden, müsste in einer Studie geklärt werden.[2] Weitere Beispiele siehe Abschnitt "Wie konkret muss Forschung sein?"
[3] Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945, Schleswig-Holstein I, Nördlicher Landesteil, Frankfurt 1993, S.180. Der Rezensent besitzt eine Kopie dieser Liste.
[4] Harald Jenner: Zwangsarbeiter in Einrichtungen der Diakonie in Hamburg und Schleswig-Holstein, in: Diakonie Korrespondenz 7/00, S.11-38.