IVg) Hinweise zur Fluktuation

U. Danker gibt an, dass für 'arische' Dänen und zunächst auch für Holländer und Belgier die Möglichkeit der Vertragsbeendigung und regulären Heimkehr bestand. Westliche 'Fremdarbeiter' nutzten zudem den Heimaturlaub zum Untertauchen. Um diese Faktoren bei der Berechnung einer Gesamtzahl aller im Zeitraum von 1939 bis 1945 in Schleswig-Holstein eingetroffenen Ausländer angemessen zu berücksichtigen, geht er davon aus, dass der Anzahl der am 30.9.1944 hier anwesenden Ausländer weitere hinzugezählt werden müssen. Für 'Ostarbeiter' und Polen nimmt er eine Zahl von 8.500 an, die vorzeitig - krank oder schwanger - in die Heimat abgeschoben worden sind. Für westliche 'Fremdarbeiter' geht er "von einem konservativen Austauschfaktor 0,5 aus, so daß etwa 20.500 ausländische Arbeitskräfte westlicher Herkunft der statistischen Beschäftigtenzahl vom 30.9.1944 hinzuzufügen wären."(Zwangsarbeit, S.59f.)

Diese Ausführungen Dankers enthalten mehrere Fehler:

1. Diese numerischen Annahmen dürften sich als zu niedrig erweisen und sind wohl nur mit einer mangelhaften Auswertung der benutzten Quelle 'Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich' zu erklären. Im 'Arbeitseinsatz' werden nämlich nicht nur die Zahlen der ausländischen Arbeitskräfte aufgelistet, sondern es gibt weitere Rubriken, die offensichtlich übersehen worden sind:

a) Die Einstellungen und Entlassungen der Arbeiter und Angestellten im Großdeutschen Reich auf Grund der Arbeitsbuchkartei.

b) Die Wanderungsbewegung der Arbeiter und Angestellten im Großdeutschen Reich auf Grund der Arbeitsbuchkartei.

Die erste Rubrik enthält lediglich Hinweise auf den Wechsel des Arbeitsplatzes: Vom 1.4. - 30.6.1943 wurden z.B. in Schleswig-Holstein 14.687 Ausländer/innen eingestellt und 9.499 aus Arbeitsverträgen entlassen. Die zweite Rubrik verzeichnet dagegen eindeutige Angaben über das Verlassen Schleswig-Holsteins und über einen entsprechenden Zuzug: Im Zeitraum vom 1.4. - 30.6.1943 kamen 9.429 Ausländer (m 4.891, w 4.538) nach Schleswig-Holstein. Zusätzlich erfolgt die Angabe, ob diese Zuwanderung aus dem Ausland oder aus einem anderen Arbeitsamtsbezirk erfolgte. Im oben genannten Zeitraum verließen insgesamt 5.442 Ausländer (m 4.358, w 1.084) Schleswig-Holstein, davon kehrten 4.785 Zwangsarbeiter (3.952 m und 833 w) ins Ausland zurück.

Datum Abwanderung von
ausländischen Arbeitskräften
aus Schleswig-Holstein
Davon Rückkehrer
ins Ausland
1.04. - 30.06.43 5.442 4.785
1.07. - 30.10.43 4.995 3.826
1.10. - 31.12.43 3.410 2.588
1.01. - 31.03.44 3.859 3.128
Summe 17.706 14.327
Differenz 3.379 in andere Arbeitsamtsbezirke

Allein zwischen dem 1.4.1943 und dem 31.3.1944 kehrten 14.327 Zwangsarbeiter ins Ausland zurück. Es dürfte somit für den gesamten Zeitraum von 1939 - 1945 eine erheblich höhere Anzahl als die im Gutachten geschätzten 29.000 vorzeitigen Rückkehrer zu berücksichtigen sein.

Zusätzlich ergeben sich aus dem 'Arbeitseinsatz' aufschlussreiche Hinweise über den Wechsel in einen anderen Arbeitsamtsbezirk. Danker hätte in dieser Hinsicht nicht erneut spekulieren müssen: "Diese Quote ist sehr gering."(Zwangsarbeit, S.61) Innerhalb des Zeitraumes vom 1.4.1943 bis zum 31.3.1944 wurden 3.379 Zwangsarbeiter aus Schleswig-Holstein in einen anderen Arbeitsamtsbezirk abgezogen. Wie hoch mag ihre Anzahl im Verlaufe des ganzen Krieges gewesen sein?[1]

Detailliertere Auskünfte zur Fluktuation vor 1943 bietet der 'Arbeitseinsatz' für Schleswig-Holstein nicht. Aber bereits im April 1942 gab der Hamburger "Gaubeauftragte für die Lagerbetreuung" der DAF an, dass bis zu diesem Zeitpunkt 65.000 Ausländer in Hamburg gewesen seien. Im gleichen Monat arbeiteten 31.000 Ausländer dort.[2] Es hätte nachgewiesen werden müssen, dass es in Schleswig-Holstein eine signifikant niedrigere Fluktuation gegeben hat.

2. Bei dem Versuch eine Gesamtzahl der in Schleswig-Holstein eingetroffenen Ausländer zu berechnen, übersieht Danker jedoch zwei weitere Hinweise auf die Fluktuation:

a) Zwischen dem 15.5. und dem 30.6.1943 stieg die Anzahl der beschäftigten Ausländer von 120.139 auf 121.915 (um 1,5%). Auf den ersten Blick erhöhte sich damit die Anzahl der Zwangsarbeiter, die neu nach Schleswig-Holstein gebracht worden waren, um 1.776. Im gleichen Zeitraum sank jedoch die absolute Anzahl der Zwangsarbeiter von 82.646 auf 82.126 (-0,6%), während bei den Zwangsarbeiterinnen eine Steigerung um 2.296 (6,1%) erfolgte.[3]

b) Weiter reicht es nicht aus, für einzelne Stichtage isoliert die Zugehörigkeit zu einzelnen Nationalitäten zu präsentieren. Danker unterlässt es auch hier, längerfristige Zu- bzw. Abnahmen zu berücksichtigen. Über einen längeren Zeitraum betrachtet, ergeben sich zusätzliche Hinweise auf die Fluktuation:

Nationalität 30.9.1943 30.9.1944 Differenz
Belgier 6.097 3.838 -2.259
Niederländer 7.716 6.748 -968
Franzosen 12.897 10.737 -2.160
Dänen 6.330 2.703 -3.627
Summe -9.014

Obwohl 9.014 Angehörige der vier Nationen weniger in Schleswig-Holstein arbeiteten, erhöhte sich vom 30.9.1943 bis zum 30.9.1944 die Gesamtzahl der in Schleswig-Holstein beschäftigten Zwangsarbeiter um 5.366. Es müssen damit mindestens 14.380 Ausländer neu in zivile Arbeitsplätze eingewiesen worden sein.

3. Die Berechnungen Dankers stimmen nicht. Bei einem Austauschfaktor von 0,5 ergibt sich eine Anzahl von ca. 20.500 zusätzlichen westlichen Ausländern nur, wenn am 30.9.1944 etwa 41.000 Angehörige der westlichen Nationen in Schleswig-Holstein beschäftigt gewesen wären. Offensichtlich nimmt Danker als westliche Arbeitskräfte die in Diagramm 3 (Zwangsarbeit, S.43) genannte Anzahl (40.529) der 'Nichtpolen' und 'Nichtostarbeiter'. Darunter befanden sich aber u.a. 4.154 Ukrainer und 2.075 Balten.[4]

Eine genaue Verteilung der Nationalitäten lässt sich der folgenden Abbildung über die Beschäftigungsverhältnisse am 30.9.1944 aus dem 'Arbeitseinsatz Nr.12/13 von 1944 entnehmen:

Bild

Wiederum ein Fall, in dem Danker seine These (Austauschfaktor von 0,5) nicht an der vorhandenen Literatur überprüft: Christian Rathmer ermittelte allein für Lübeck während der Kriegszeit 9.000 beschäftigte Dänen.[5] Am 30.9.1944 verzeichnet der 'Arbeitseinsatz' 2.703 dänische Arbeitskräfte für Schleswig-Holstein. Friedrich Stamp gibt den DAF-Lagebericht für den Oktober 1941 mit insgesamt 7.380 Italienern wider.[6] Am 15.2.1944 arbeiteten nur noch 2.435 Italiener in der Provinz. Beide Beispiele aus Schleswig-Holstein weisen auf einen wesentlich höheren Austauschfaktor hin und hätten zu weiteren Recherchen führen müssen.

Während des Krieges arbeiteten rund 630.000 Niederländer im Deutschen Reich.[7] Am 30.9.1944 befanden sich rund 250.000 Niederländer im Arbeitseinsatz. Diese Angaben für die Reichsebene ergeben einen Austauschfaktor, der mit weit über 1 erheblich höher als der von Danker auf 0,5 geschätzte liegt. Die schematische Übertragung der (lückenhaften) Daten des Landkreises Schleswig durch Danker auf die Provinz gleicht der Aussage, dass ein Läufer, der 100 m in 10 Sekunden schafft, für 1.000 m 100 Sekunden benötigt.


[1] Die eben genannten Zahlen über die Abwanderung aus Schleswig-Holstein decken sich jedoch nicht mit anderen Angaben aus dem 'Arbeitseinsatz'. Siehe Abschnitt "Verlauf der Ausländerbeschäftigung".

[2] Littmann, a.a.O., S.576.

[3] Weitere Beispiele siehe Abschnitt "Verlauf der Ausländerbeschäftigung".

[4] Die Differenz von 6.457 ausländischen Beschäftigten zwischen den Angaben in den Diagrammen 2 und 3 für den 30.9.1944 müsste erklärt werden.

[5] Christian Rathmer: "Ich erinnere mich nur an Tränen und Trauer ...". Zwangsarbeit in Lübeck 1939 bis 1945, Essen 1999, S.27.

[6] LAS, Abt.454, Nr.4, Bl.301.134, Wiedergabe in: Friedrich Stamp, Arbeiter in Bewegung, Die Geschichte der Metallgewerkschaften in Schleswig-Holstein, Malente 1997, S.136

[7] Peter Meyer-Strüvy: Niederländische Zwangsarbeiter in Kiel und Lübeck, in: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte Nr.25.