Das Buch "Zwangsarbeit in der Kriegsmarinestadt Kiel" stellt die Ergebnisse eines Forschungsprojektes vor, das der Autor Dr. Jan Klußmann unter Leitung von Dr. Jürgen Jensen von 2000 bis 2002 am Stadtarchiv Kiel durchführte. Ziel des Projektes war es, Lebensbedingungen und Erfahrungen der Zwangsarbeiter in Kiel zu untersuchen: Dargestellt werden Arbeits- und Lageralltag, Versorgung, das Verhältnis zur deutschen Bevölkerung, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen von Fremdarbeitern sowie die Formen von Verweigerung und Kontrolle. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf die Nachkriegsschicksale der Zwangsarbeiter.
Um die Perspektive der Betroffenen beleuchten zu können, wurden neben der - oft lückenhaften - archivalischen Überlieferung auch Zeitzeugenberichte herangezogen. Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die "Ostarbeiter" aus der besetzten Sowjetunion, die den schlechtesten Lebensbedingungen ausgesetzt waren und über deren Schicksal für Kiel bislang wenig bekannt war.
Insgesamt haben während des Zweiten Weltkrieges weit mehr als 30.000, vermutlich sogar über 40.000 Menschen aus dem besetzten Europa in Kiel gearbeitet. In der ersten Kriegshälfte waren es vor allem Tschechen, Dänen und Italiener. Ab Frühjahr 1942 wurden in großer Zahl sowjetische Bürger nach Kiel deportiert, in geringerer Zahl gelangten im Zuge von Zwangsaushebungen außerdem westeuropäische Arbeitskräfte in die Kriegsmarinestadt. Polnische Zwangsarbeiter spielten dagegen eine zahlenmäßig geringe Rolle (Anfang 1944: 9% der Ausländer in Kiel).
Rund die Hälfte der Zwangsarbeiter in Kiel arbeitete in der Rüstungsindustrie, insbesondere auf den großen Werften, im Kriegsmarinearsenal und ihren Zuliefererbetrieben. Einen hohen Anteil an Zwangsarbeitern gab es außerdem im Baugewerbe (Bunkerbau, Trümmerräumung): Anfang 1944 waren über die Hälfte der dort beschäftigten Personen Ausländer. Doch Zwangsarbeit durchdrang alle ökonomischen Bereiche: Etwa 10% der ausländischen Arbeitskräfte arbeiteten im öffentlichen Dienst, bei der Stadt Kiel etwa bei der Straßenreinigung, den Stadtwerken, dem städtischen Krankenhaus und bei den städtischen Bühnen. Ebenso finden sich Zwangsarbeiter in Kleinbetrieben und als Dienstpersonal in Privathaushalten.
Je nach Nationalität erwarteten die ausländischen Arbeitskräfte unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen. Dänen nahmen beispielsweise gegenüber Tschechen etwas qualifiziertere und besser bezahlte Arbeitsplätze ein, letztere arbeiteten ebenso wie Polen und Italiener vor allem im Baugewerbe. Die "Polen-" und "Ostarbeitererlasse" von 1940 bzw. 1942 entrechteten diese beiden Zwangsarbeitergruppen weitgehend, besondere Abzeichen an der Kleidung stigmatisierten sie. "Ostarbeiter" mußten unqualifizierte, schwere und gefährliche Arbeiten verrichten. Alters- und geschlechtsspezifische Rücksichten wurden hier nicht genommen, was insbesondere bei dem oft mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen verbundenen Einsatz von jungen Frauen im Bunkerbau deutlich wird. Aufgrund des Facharbeitermangels begannen die Betriebe allerdings bald, "Ostarbeiter" für Facharbeitertätigkeiten anzulernen. Bargeld erhielten die "Ostarbeiter" für ihre Tätigkeit kaum, geringfügige Besserungen gab es erst ab 1944 mit den Lockerungen der ursprünglichen Bestimmungen in den "Ostarbeiter"-Erlassen.
Der größte Teil der Zwangsarbeiter lebte in den über 100 Lagern in und um Kiel. Dazu dienten vor allem rasch errichtete Barackenlager, ferner Schulen und Ledigenheime. Die sowjetischen Zwangsarbeiter waren gesondert in "Ostarbeiterlagern" untergebracht, oft in isolierter Lage am Stadtrand, umgeben von Stacheldrahtzäunen, die z.T. unter Strom gesetzt waren. Die Menschen lebten in drangvoller Enge, oft 20-30 Personen in einer Stube. Ungezieferplage herrschte in den meisten Lagern. Für "Ostarbeiter" herrschte ein striktes, nur gegen Kriegsende etwas gelockertes Ausgangsverbot, Monotonie und Heimweh prägten den Lageralltag.
Hunger erscheint in den Erinnerungsberichten als die wesentliche Grunderfahrung aller befragten Personen. Extreme Hungererfahrungen mußten die Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion machen, für die weit geringere Versorgungssätze galten als für alle anderen Arbeitskräfte. Etwas Ersatzkaffe, einige Scheiben Brot und eine Wassersuppe war die tägliche Mahlzeit, Kartoffeln stellten bereits einen Luxus dar. Auch in anderen Versorgungsbereichen (Kleidung, medizinische Versorgung) standen sie auf der untersten Stufe der vom NS-Regime geschaffenen Hierarchie unter den ausländischen Arbeitskräften. Ein sichtbares Zeichen dafür ist die hohe Sterblichkeit unter den Kleinkindern in den "Ostarbeiterlagern".
Soziale Beziehungen innerhalb der verschiedenen Gruppen von Zwangsarbeitern konzentrierten sich auf die jeweilige Landsmannschaft und vor allem auf die einzelne Stubengemeinschaft. Außerhalb der Lagerwelt wird allerdings ein an bestimmte Gaststätten geknüpftes Kommunikationsnetz erkennbar, das als Nachrichtenbörse und für Schwarzmarktgeschäfte diente. "Ostarbeiter" partizipierten daran allerdings nur in geringem Maße.
Als sehr unterschiedlich erweist sich das Verhalten der Deutschen gegenüber den Zwangsarbeitern. Daß es "solche und solche Deutsche" gegeben habe, ist ein oft wiederkehrender Topos in den Erinnerungen der Betroffenen. "Ostarbeiter" berichten häufig über Hilfeleistungen (vor allem Zustecken von Lebensmitteln und Kleidung), aber ebenso auch über Schläge durch Vorgesetzte am Arbeitsplatz. Am Arbeitsplatz und auf der Straße mußten ausländische Arbeitskräfte oft erleben, daß die NS-Rassenideologie von Teilen der Bevölkerung verinnerlicht worden war. Es scheint allerdings, daß Zwangsarbeiter in der Großstadt Kiel häufiger mit Personen aus dem gewerkschaftlichen bzw. sozialdemokratischen oder kommunistischen Milieu in Berührung kamen, die ihnen mit gewisser Sympathie begegneten. Die sowjetischen Zwangsarbeiter waren gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung zwar sehr isoliert, aber doch nicht in dem Maße, wie es das NS-Regime gewünscht hätte.
Die "Fremdarbeiter" waren einer rasch wachsenden Repression durch Polizei (Gestapo) und Gerichte ausgesetzt. Ausländer stellten den größten Teil der Insassen der 1943 und 1944 von der Kieler Gestapo eingerichteten "Arbeitserziehungslager" Drachensee und Nordmark. "Ostarbeiter" waren bereits in ihren Wohnlagern einer permanenten Kontrolle ausgesetzt. Während das zivile Verwaltungspersonal durchaus unterschiedlich beurteilt wurde - ein Hinweis auf vorhandene Spielräume in der Behandlung der Zwangsarbeiter - waren vor allem die Lagerwachmannschaften gefürchtet und gehaßt.
Die Zeitzeugenberichte sind voll von Beispielen von Willkür und Mißhandlungen. Widerstand hat es nach Erinnerung von Überlebenden - angesichts der drakonischen Strafandrohungen (Schläge, Einweisung in AEL oder KZ) für kleine Übertretungen der Lagerordnung - nicht gegeben. Das häufigste Delikt war, neben kleineren Diebstählen, die Flucht aus dem Lager, oft nur mit dem Ziel, ein erträglicheres Unterkommen z.B. bei einem Bauern zu finden.
Seit 1943 wuchs die Zuversicht auf eine militärische Niederlage Deutschlands. 1944 entstanden in verschiedenen Zwangsarbeiterlagern in Kiel und anderen schleswig-holsteinischen Städten Widerstandsgruppen, die jedoch rasch von der Gestapo zerschlagen wurden. Unmittelbar vor Kriegsende scheint es nach Augenzeugenberichten Pläne der Kieler Gestapo zu Massakern an Insassen von "Ostarbeiterlagern" gegeben zu haben, die jedoch durch das rasche Vordringen der Alliierten vereitelt wurden.
In den ersten Tage nach der Kapitulation kam es zwar zu Ausschreitungen und Strafaktionen durch die befreiten "Displaced Persons" (DPs), sie erscheinen jedoch im Vergleich zum zugefügten Leid als relativ geringfügig und wurden durch die britische Besatzungsmacht rasch eingedämmt. Der größte Teil der befreiten Zwangsarbeiter kehrte noch im Sommer 1945 in die Heimat zurück, die Repatriierung der sowjetischen DPs erfolgte im Einverständnis der Betroffenen. Angehörige aller Nationen mußten nach ihrer Rückkehr Diskriminierungen aufgrund ihrer Arbeit in Deutschland erfahren. Die meisten Betroffenen leiden bis heute unter gesundheitlichen Folgen der Zwangsarbeit, viele sind durch ihre Erlebnisse bis heute traumatisiert.
Die Kriegsproduktion in Kiel konnte nur durch den Einsatz von mehreren zehntausend Zwangsarbeitern aufrecht erhalten werden. Im kollektiven Gedächtnis der Stadt haben sie bisher keinen Platz gefunden. Ihr Schicksal nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist Anliegen des Buches.
Angaben zum Buch:
Jan Klußmann, Zwangsarbeit in der Kriegsmarinestadt Kiel 1939-1945. (Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 81) Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2004. 295 Seiten. 89 Abbildungen.ISSN 1612-6424, ISBN 3-89534-481-8. Preis: 24,- Euro