Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen

 In der Präambel des Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 (Genfer Konvention) steht gleich am Anfang: „daß es Pflicht jeder Macht ist, im äußersten Falle eines Krieges dessen unvermeidliche Härten abzuschwächen und das Los der Kriegsgefangenen zu mildern.“ Artikel 2 legt fest, dass "sie (...) jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier geschützt werden" müssen.

Im Juli 1942 erließ der Reichsinnenminister in Zusammenarbeit mit dem OKW und dem Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda den Erlass „Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen“[41]: 

„Die Kriegswirtschaft erfordert den Einsatz aller zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Deshalb werden die Kriegsgefangenen in vollem Umfange in den Dienst unserer Wirtschaft gestellt. Kriegsgefangenen müssen so behandelt werden, daß ihre volle Leistungsfähigkeit der Industrie und Ernährungswirtschaft zugute kommt.“[42]

 Abgesehen davon, dass im ganzen Erlass kein einziger Hinweis auf die Genfer Konvention gegeben wurde, galt als allgemeine Richtschnur für die Behandlung die Verwendbarkeit in der Industrie. Dies geschah im Gegensatz zur Forderung nach jederzeitiger Menschlichkeit.

Der Erlass, auf den in anderen Abschnitten erneut eingegangen wird, bestimmte weiter: 

-         „Deutsche Frauen, die in Beziehung zu Kriegsgefangenen treten, schließen sich von selbst aus der Volksgemeinschaft aus und erhalten ihre gerechte Strafe. Selbst der Schein einer Annährung muß vermieden werden.“

-         „Kriegsgefangene gehören nicht zur Haus- oder Hofgemeinschaft, also auch nicht zur Familie.“

 In den Zeitungen wurden diese und andere Aussagen der Bevölkerung bekanntgegeben und gleich mit Bestrafungen gedroht, falls dagegen verstoßen werden sollte. Die Kieler Neuesten Nachrichten verbreiteten am 22. 8. 1941 unter der Schlagzeile „Feind bleibt Feind“ Forderungen bezüglich des Umgangs mit Kriegsgefangenen:

 „Wachsamkeit und Misstrauen sind die wichtigsten Gebote der Gefangenenbehandlung. Der gefangene Soldat, der jahrelang unter dem Einfluß der feindlichen Agitation stand und mit der Waffe in der Hand gegen uns kämpfte, kann nicht unseres Vertrauens würdig sein.

Der Einsatz von Kriegsgefangenen in der Wirtschaft ist ein notwendiges Übel. Schaden kann aber verhütet werden, wenn die Bevölkerung verständnisvoll zusammenwirkt. Feindliche Agenten suchen zum Zwecke der Spionage und der deutschfeindlichen Hetze Verbindung mit den Kriegsgefangenen. Ihr Treiben ist eine Gefahr im Rücken unserer Wehrmacht und kann deutschen Soldaten das Leben kosten.

Wer Kriegsgefangenen Briefpapier oder Briefmarken verschafft, umgeht die Überwachung der Kriegsgefangenen-Post. Wer Kriegsgefangenen deutsches Geld als Trinkgeld oder als Lohn aushändigt, verhilft ihnen zu Fluchtmitteln. Wer Kriegsgefangenen vorsätzlich zur Flucht verhilft, begeht Landesverrat und wird dementsprechend bestraft. Jeder Verkehr und alle Gespräche mit Kriegsgefangenen, die über die Erfordernisse des Arbeitseinsatzes hinausgehen, sind verboten. Will man ihnen für besonderen Fleiß eine Belohnung zukommen lassen, so tue man es über den Kommandoführer oder über den Wachmann.

Zurückhaltung und Schweigsamkeit der Bevölkerung gegenüber Kriegsgefangenen sind nicht nur eine unbedingte Forderung der Spionage- und Sabotageabwehr, sondern auch der nationalen Würde. Es entspricht nicht deutscher Ritterlichkeit, dem wehrlos gewordenen Feind ohne zwingende Notwendigkeit Gewalt anzutun. Ebensowenig sind aber übertriebenes Mitleid und Entgegenkommen am Platze. Kriegsgefangenen gegenüber ist daher jener zurückhaltende Stolz an den Tage zu legen, der dem gesunden Volksempfinden entspricht. Jeder, der mit Kriegsgefangenen zu tun hat, beherzige deshalb: Feind bleibt Feind!“

 Es entspräche nicht „deutscher Ritterlichkeit, dem wehrlos gewordenen Feind“ Gewalt anzutun. Diese Behauptung wurde in höheren militärischen Kreisen zum Teil ganz anders gesehen. Als Admiral Canaris am 15. September 1941 gegen die Bestimmungen zur Sonderbehandlung der sowjetischen Soldaten  protestierte, notierte Generalfeldmarschall Keitel dazu: „Die Bedenken entsprechen den soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg! Hier handelt es sich um die Vernichtung einer Weltanschauung! Deshalb billige ich diese Maßnahmen und decke sie.“[43]

Der Bevölkerung wurden in der Presse Verhaltensregeln bekannt gegeben: „Entflohene Kriegsgefangene, insbesondere sowjetische, können eine große Gefahr für die Sicherheit unseres Vaterlandes werden.“ Jeder Volksgenosse sei dazu verpflichtet und auch befugt, entflohene Gefangene ohne Waffengewalt festzunehmen. Am Schluss dieses Artikels der Kieler Neuesten Nachrichten (22. 11. 1941) erschien die Sonderstellung der Sowjets erneut: „Anders ist es dagegen, wenn die Zivilperson bei der Festnahme von den Kriegsgefangenen angegriffen werden sollte und sich der Fall der Notwehr ergibt. Schon eine Bedrohung durch einen sowjetischen Kriegsgefangenen ist regelmäßig als ein Angriff anzusehen. In einem solchen Falle kann die Verteidigung, soweit sie erforderlich ist, um den Angriff abzuwenden, mit der Waffe erfolgen.“ [Hervorhebungen R.S.]

Die Unterschiede in der Behandlung der Kriegsgefangenen widersprachen dem Gleichheitsgrundsatz des Artikels 4, der bestimmte, dass „Unterschiede in der Behandlung der Kriegsgefangenen (...) nur insoweit zulässig" sind, "als es sich um Vergünstigungen handelt, die auf dem militärischen Dienstgrad, dem körperlichen oder seelischen Gesundheitszustand, der beruflichen Eignung oder dem Geschlecht beruhen.“ Gegen diesen Artikel wurde u.a. dadurch verstoßen,

-         dass sowjetische Kriegsgefangene im Gegensatz zu anderen nur kolonnenweise eingesetzt werden durften,[44]

-         dass sie nach Wiederergreifung bei Flucht der Staatspolizei zur Ahndung übergeben werden mussten,[45]

-         dass sie von bestimmten Vergünstigungen ausgeschlossen blieben.

Die Ungleichbehandlung der Nationen zeigte sich schon vor dem Angriff auf die Sowjetunion. So wurde nach einer Anweisung für den Wehrkreis X „den französischen Kriegsgefangenen widerruflich gestattet, in ihrer Freizeit innerhalb geschlossener Ortschaften den Bürgersteig zu benutzen, vorausgesetzt, daß

1)      die französischen Kriegsgefangenen höchstens zu zweien nebeneinander gehen dürfen,

2)      daß sie vor deutschen Volksgenossen ausweichen,

3)      daß sie sich den deutschen Volksgenossen gegenüber korrekt verhalten.“[46]

Die Kontrolle, ob diese Vergünstigung missbraucht wurde, oblag dem Kompanieführer, der diese Ausnahmeregelung auch wieder aufheben durfte.

Hier liegt der entscheidende Punkt. Die Behandlung der Kriegsgefangenen hing ab vom Verhalten der Kompanie- und Kommandoführer und der Arbeitgeber. Je geringer die Kontrollmöglichkeit des Staates wurde, umso mehr entschied jeder Einzelne nach Erlassen oder seinem Gewissen. Dies führte dazu, dass die Kriegsgefangenen - auch die sowjetischen - in vielen Fällen gerade in der Landwirtschaft mit am Tisch aßen und mit ihnen gesprochen wurde.

Im Erlass „Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen“ heißt es: „Jedes Entgegenkommen gegenüber Kriegsgefangenen erleichtert dem Feind die Spionage und Sabotage und richtet sich damit gegen unser Volk.“ Strafen werden angekündigt. „Jeder Verstoß gegen diese Richtlinien sabotiert die Kriegsführung und wird streng bestraft.“  

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[41] Runderlass des RMdI vom 23.7.1942. Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen. Ministerialblatt des Reichs- und Preuß. Min. des Inneren vom 2.9.1942

[42] ebenda

[43] Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946 (künftig: IMG), Nürnberg 1947, Bd. 22, S. 540

[44] Runderlass des RMdI vom 2.7.1942, a. a. O.

[45] Rundverfügung der Gestapo Kiel vom 13.11.1942. GAB - Abt. Ausländerwesen

[46] Schreiben des Landrats des Kreises Rendsburg an die Ortspolizeibehörde vom 22.11.1941. GAB - Abt. Ausländerwesen

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