Als einen Unsicherheitsfaktor bei der Berechnung der Gesamtzahl von Zwangsarbeitenden in Schleswig-Holstein benennt U. Danker die "gnadenlose Rücksendung - insbesondere von Ostarbeitern, jedoch auch Polen und anderen - im (schweren) Krankheitsfall in die Heimat."(S.70f.) Die Einschränkung, dass diese Rückführung "nicht immer konsequent durchgeführt" wurde, hebt der Autor in seinem Fazit allerdings wieder auf (S.650). Als äußerst unglücklich ist das von U. Danker für die "gnadenlose Heimsendung" gewählte Beispiel (S.133) aus dem Kreis Pinneberg vom 21.12.43 zu bezeichnen, da die Heimsendung trotz zweijähriger Erkrankung noch nicht erfolgt war.
Die Rücksendung von kranken Zwangsarbeitenden war nach entsprechenden Erlassen geplant worden, musste jedoch im Verlauf des Krieges zunehmend eingestellt werden, da der physische und psychische Zustand der Rückkehrer demoralisierend in den besetzten Gebieten wirkte. Außerdem wurden die Transportkapazitäten zunehmend knapper und die Heimat der potentiellen Rückkehrer lag mittlerweile außerhalb des deutschen Machtbereiches. Statt dessen wurden sogenannte Rückkehrerlager oder -sammelstellen eingerichtet, in denen die Kranken bis auf weiteres verwahrt wurden.[30]
Im Zeitraum 1943/44 wurden tbc-erkrankte Zwangsarbeiter aus dem Hamburger Randgebiet nach Langenhorn oder nach Schülldorf bei Osterrönfeld in die Rückkehrersammelstelle des Arbeitsamtes verlegt.[31] Von Langenhorn erfolgten dann Abtransporte nach Neumünster ins Krankenhaus (43 Personen) und nach Schülldorf (40 Russinnen und Russen sowie 1 Polin in drei Transporten im Dezember 1943, März 1944 und Januar 1945). Von den nach Schülldorf Gelangten verstarben dort bis Kriegsende 16 Personen.[32] Um die häufigen Erkrankungen besser kontrollieren zu können, wurden zudem für viele Krankenhäuser sogenannte Russenbaracken errichtet, um eine u.a. rassenideolgisch begründete Trennung der Patienten zu gewährleisten.
Schwangerschaft Die Rücksendung von Zwangsarbeiterinnen im Falle einer Schwangerschaft, die "nicht immer konsequent durchgeführt" wurde (S.71), bereitet U. Danker ebenfalls Schwierigkeiten in der Einordnung. Den Zwangsarbeiterinnen erschien eine Schwangerschaft als Möglichkeit, wieder in die Heimat zu gelangen. Deshalb stieg nach einiger Zeit die Anzahl der Schwangerschaften deutlich an.[33] Die potentielle Rücksendung entsprach deshalb nicht mehr "dem rationalen Kalkül der Totalausbeutung" (S.71). Es wurde jetzt "eine staatlich verordnete, rassistischen Auswahlkriterien folgende und massiven Zwang einschließende Abtreibungspolitik verfolgt." (S.49) Das stimmt nicht generell:
- Einerseits beklagte sich im Januar 1944 ein Assistenzarzt aus Itzehoe, dass "die tägliche Arbeit durch die Hinzunahme der Polen-Baracke und der seit dieser Zeit angeordneten Schwangerschaftsunterbrechungen bei Polinnen und Ostarbeiterinnen - jetzt täglich 2 - weiterhin vermehrt wurde."[34]
- Andererseits wurden nun an vielen Orten die "Ausländerkinderpflegestätten" oder "Entbindungsheime" eingerichtet, wo die Frauen entbanden und kurz darauf wieder zur Arbeit gezwungen wurden. Diese Massnahmen sind in der Literatur durchaus bekannt und für Schleswig-Holstein auch belegt: Der "Gedenkstättenführer für die Opfer des Nationalsozialismus" weist auf Lensahn mit 17 toten Kindern hin. Gerhard Hoch nennt in dieser Hinsicht den Bleekerstift in Uetersen und ein Stallgebäude in Elmshorn im Ortsteil Kölln-Reisiek.[35] Im Gutachten wird dieser Aspekt von M. Oddey auf S.232 beleuchtet; er nennt aber keine konkreten Beispiele für Schleswig-Holstein.
Zum Themenbereich der Rücksendung von Schwangeren müssen drei Anmerkungen bzw. Fragen gestattet sein, die nicht im Zusammenhang mit den Zahlen des Gutachtens stehen:
- Auch im Falle eines Ehepaares wurden die Väter nicht zurückgeschickt.
- Welche Not musste eine junge unverheiratete katholische Polin verspüren, wenn sie durch eine Schwangerschaft wieder in die Heimat gelangen wollte? Wie ist sie bei ihrer Rückkehr empfangen und aufgenommen worden?
- Verblieben diese Mütter in der Heimat oder hat sich ihr Leidensweg wiederholt? Mir ist so ein Fall aus Polen bekannt: Kurz nach der Geburt des Kindes erfolgte eine erneute Verschleppung der Mutter nach Deutschland.
Verstorben in Schleswig-Holstein Die Anzahl der Toten und die Todesdaten weisen - außer auf die schlechten Lebensbedingungen für die Zwangsarbeiter - auch darauf hin, dass die Rücksendung in die Heimat im Krankheitsfall immer seltener erfolgte. U. Danker verzichtet auf den Versuch, die Gesamtzahl der Verstorbenen zu ermitteln.(S.70) So ein Versuch wäre wohl auch zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber: Kurz nach Beendigung des Krieges verpflichteten die Alliierten u.a. die Kreise, Ermittlungen nach Verstorbenen durchzuführen. Die Kreise reichten ihre Ergebnisse in Listenform ein. Später übernahmen die Kommunen die Aufgabe, die zugehörigen Gräber zu pflegen und erhielten dafür einen finanziellen Ausgleich in Form einer Pauschale. Mit Hilfe dieser ersten Listen öffentlich zu pflegender Gräber der einzelnen Kreise wäre es durchaus möglich gewesen, zu einer besser abgesicherten Anzahl als den geschätzten 9.000 Toten zu gelangen.
Zusätzlich wäre der Hinweis angemessen gewesen, dass es neben der Gedenkstätte für sowjetische Soldaten in Gudendorf auch an anderen Orten entsprechende Anlagen gibt, so z.B. in Lübeck für die Niederländer.
"In den Kontext der Mortalität gehört auch, dass bei der Höhe der Verschleppungszahlen keineswegs irrelevant wenige Zwangsarbeitende, die in psychiatrische Anstalten gelangt waren, im Rahmen der 'NS-Euthanasie' ermordet wurden."(S.70) Dem kann nur zugestimmt werden, aber es "gehört" sich auch der Hinweis, dass H. Jenner dieses bereits 1995 konkreter publiziert hat.[36]
Weitere Unsicherheitsfaktoren Die Schleswig-Holstein betreffende Fluktuation wurde zusätzlich dadurch gesteigert, dass viele Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene mit den sich ständig verschärfenden Verordnungen in Konflikt kamen. Ein Teil dieser Personen wurde vom Sondergericht in Kiel oder von anderen Gerichtsinstanzen verurteilt und in die verschiedensten Strafanstalten des Reiches verbracht. Einige kamen ohne Urteil ins Arbeitserziehungslager Nordmark. Da sie in Schleswig-Holstein gearbeitet haben, waren sie in den Statistiken der hiesigen Arbeitsämter bereits vermerkt und müssten bei einer Zahlenberechnung nicht extra berücksichtigt werden (S.69). Es stellt sich aber die Frage: Wurden sie als Häftlinge weiterhin vom Arbeitsamt erfasst?
Bevor das Arbeitserziehungslager (AEL) in Kiel 1944 seine Funktion übernahm, erfolgten allein aus der Gemeinde Büdelsdorf mehrfach Einweisungen ins AEL Watenstedt, in die Konzentrationslager Neuengamme und Mauthausen sowie in andere Strafanstalten. Auch in mehreren Beiträgen des Gutachtens werden Beispiele dafür genannt, dass Zwangsarbeitende in Haftanstalten außerhalb Schleswig-Holsteins verlegt wurden. Wie hoch die Anzahl der Betroffenen für Schleswig-Holstein war, dies wird wohl unklar bleiben.
Es gibt weitere Unsicherheitsfaktoren für die Berechnung einer genauen Anzahl von Zwangsarbeitenden in Schleswig-Holstein, die ebenfalls in einzelnen Beiträgen des Gutachtens erwähnt werden, hier aber nicht weiter aufgelistet werden sollen. Die zahlreichen genannten Unsicherheitsfaktoren bestätigen in eindeutiger Weise, dass eine "exakte und präzise" Antwort auf die Frage: "Wie viele Zwangsarbeitende gab es in Schleswig-Holstein?" nicht gegeben werden kann.
[30] Warum benutzt U. Danker diese Informationen nicht, obwohl sie anderweitig im Gutachten erwähnt werden?[31] LAS Abt.309, Nr.35060
[32] Das geht aus entsprechenden Unterlagen über den Friedhof in Osterrönfeld und aus einem Schreiben von F. Littmann an den Rezensenten vom 6.11.1994 hervor.
[33] Vgl. die Ausführungen von M. Oddey im Gutachten, S.232.
[34] LAS Abt.301, Nr.6155
[35] Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Band 1 (zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage), Bonn 1995, S.747 und Gerhard Hoch: Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Elmshorn während des Zweiten Weltkrieges, in: Beiträge zur Elmshorner Geschichte, Bd. 3, Elmshorn 1989, S.26.
[36] Harald Jenner: Die Geschichte einer psychiatrischen Klinik, Schleswig 1995, S.115.