4. Anmerkungen zur Statuserhebung

Neben den oben erwähnten Kritikpunkten weist die Statuserhebung methodische Mängel auf:

  1. Die Berechnung des proportionalen Anteils für Schleswig-Holstein an der Zwangsarbeit im Deutschen Reich krankt daran, dass nicht alle Daten über die Beschäftigungsverhältnisse genannt werden. Eine Überprüfung der getroffenen Aussagen ist somit nicht möglich (vgl. S.72ff. im Gutachten).
  2. Im Gutachten wird die These aufgestellt, in Schleswig-Holstein wären aufgrund der landwirtschaftlichen Struktur und des hohen Anteils an Rüstungsproduktion überdurchschnittlich viele Zwangsarbeiter beschäftigt gewesen. Zur Verifizierung einer solchen These müssen wesentlich mehr Daten herangezogen werden, als es hier gemacht worden ist: Das sind zum einen vergleichende Zahlen aus anderen Provinzen, um die "überdurchschnittliche Partizipation" (S.72) Schleswig-Holsteins zu belegen. Zum anderen sind es genauere Zahlen über die Struktur der hiesigen Wirtschaft während des Krieges, um die "vergleichsweise hohen Anteile an Landwirtschaft und Rüstungsproduktion" (S.650) zu untermauern. Des Weiteren werden detailliertere Angaben zum zeitlichen Verlauf der Ausländerbeschäftigung in Schleswig-Holstein benötigt: Wann waren wo wieviel Zwangsarbeiter beschäftigt?

    Ohne diese Informationen erscheint die Aussage im Gutachten - "überdurchschnittliche Partizipation" - nicht hinreichend begründet bzw. sogar widersprüchlich. Dies kann anhand einer Tabelle von U. Herbert[37] über den reichsweiten Anteil (in %) der Ausländer und Kriegsgefangenen in den verschiedenen Wirtschaftszweigen verdeutlicht werden:

  3. Wirtschaftszweig

    1942

    1943

    1944

    Bau

    47,0

    50,0

    52,1

    Metall

    17,4

    31,0

    37,6

    Eisen und Stahl

    15,4

    28,7

    33,0

    Bergbau

    14,0

    25,0

    32,8

    Maschinenbau

    15,1

    29,4

    32,0

    Chemie

    15,4

    26,3

    30,2

    Elektro

    13,9

    19,3

    23,5

    Textil

    7,1

    12,3

    13,0

    Gewerbliche Wirtschaft insgesamt

    14,8

    25,0

    28,8

    Landwirtschaft

    53,0

    58,1

    51,4

    Die Beschäftigung von Ausländern lag nach den Angaben U. Herberts 1943 reichsweit im Jahresdurchschnitt im Bereich Metall bei 31% und im Bereich Eisen und Stahl bei 28,7 %. Die Statistik von J. Tillmann-Mumm im Gutachten (S.296) nennt dagegen für die großen (Rüstungs-)Betriebe Kiels im ersten Halbjahr 1943 einen Anteil von rund 18% Ausländern und Kriegsgefangenen an der Gesamtbelegschaft. Ohne weitere Daten widerspricht das der oben zitierten "überdurchschnittlichen Partizipation" und ist erklärungsbedürftig.

    Die unterschiedlich hohen Anteile der Ausländerbeschäftigung bei der Kriegsmarinewerft (21%), der Deutschen Werke Werft (15%) und bei der Firma Anschütz & Co mit 9% (jeweils für den Monat Mai 1943) belegen, dass der Faktor Rüstungsproduktion als alleiniges Erklärungsmuster für den überproportionalen Einsatz von Zwangsarbeitenden in der schleswig-holsteinischen Industrie nicht ausreicht. Der im Gutachten sehr oft herangezogene U. Herbert führt dazu sehr deutlich aus, dass "präzise Festlegungen wohl nur für die spezifischen Verhältnisse in den einzelnen Betrieben und Abteilungen zutreffen."[38]

    Mitentscheidende Faktoren dürften unter anderem der Frauenanteil an den Belegschaftsangehörigen, die Frage der Qualifikation der Beschäftigten und die Größe des Betriebes sein: Ein Betrieb, der schon vor dem Krieg viele Frauen beschäftigt hat, dürfte nicht viele Zwangsarbeitende bekommen haben. Das dürfte auch für Betriebe gelten, die einen hohen Anteil an spezialisierten Fachkräften in ihrer Belegschaft gehabt haben. Wenn in einem kleinen Betrieb Mitarbeiter zur Wehrmacht eingezogen wurden, ließ sich dieses betriebsintern schlechter auffangen als in größeren Betrieben. In kleineren Betrieben dürfte sich somit eine frühere und "überdurchschnittliche Partizipation" ergeben haben. In einem größeren Betrieb muss das nicht unbedingt der Fall gewesen sein.[39]

  4. Wenn R. Bohn (S.17f.) angibt, dass H. Lohse "mit seiner Funktion als Reichskommissar 'Ostland' ... direkten Einfluß auf die Verschickung von Ostarbeitern nach Schleswig-Holstein nehmen" konnte, dann muss dies in der Statuserhebung als eine Möglichkeit für den hohen Anteil der Zwangsarbeiter erörtert und beantwortet werden.
  5. "Schleswig-Holstein partizipierte mit signifikanter Abweichung überdurchschnittlich an der NS-Zwangsarbeit."(S.89) Diese allgemeine Aussage müsste präzisiert werden. Wer partizipierte hier? Die Provinz als staatliche Einrichtung, die Landwirtschaft, die schleswig-holsteinische Industrie oder Einrichtungen des Reiches in Schleswig-Holstein? Diese Präzisierung ist auch deshalb von Nöten, da sich der hohe und frühe Anteil an der Zwangsarbeit auch dadurch ergeben haben könnte, dass ganze Betriebe oder Betriebszweige wegen der Luftangriffe und des Kriegsverlaufes in die Provinz Schleswig-Holstein verlagert wurden.[40]
  6. Innerhalb der Statuserhebung wechselt U. Danker die kalendermäßigen Bezugsdaten, so dass eine vergleichende Betrachtung der Ausführungen über den Kreis Schleswig, die ausgewählten Dörfer, die Reichsebene und die Landesebene nicht möglich ist: Die Ausführungen zur Reichs- bzw. Landesebene beziehen sich überwiegend auf den 30.9.1944, während für den Kreis und die ausgewählten Dörfer andere Daten benutzt werden.
  7. Bei der Berechnung des Anteils der Kriegsgefangenen (Diagramm 30) führt die fehlende Kenntnis über die Organisation des Kriegsgefangenenwesens im Wehrkreis X dazu, dass einmal die Hamburger Arbeitskommandos mitberücksichtigt werden, dann aber wieder nicht.
  8. U. Danker beschreibt in der Statuserhebung "die Entwicklung der Ausländerbeschäftigung zwischen Anfang 1941 - Ende 1944" (S.44). Dabei werden knapp zwei Kriegsjahre außer Acht gelassen. Trotzdem führt er auf den Seiten 71 und 650 aus, dass ca. 225.000 Zwangsarbeitende in Schleswig-Holstein "während der NS-Zeit" eingesetzt waren.[41]
  9. Eine der Fragen, auf die im Gutachten eine "exakte und präzise" Antwort gegeben werden sollte, lautete: "Welche Branchen, welche - privaten oder öffentlichen - Arbeitgeber partizipierten in welchem Umfang von der Ausbeutung meist Zwangsverschleppter?" In den Ausführungen zu den Diagrammen 6 und 7 (Stichtag 18.8.1944) betont U. Danker zu Recht, dass die öffentliche Hand mit 12.782 Personen oder 10,2 % "durchaus maßgeblich selbst von der Zwangsarbeit profitierte."(S.52) Er belässt es bei dieser Feststellung und stellt sich nicht die Frage, ob das Arbeitsamt wirklich die gesamte Einsatzbreite im öffentlichen Dienst erfasste? Forstwirtschaft und Landeskulturarbeiten wurden unter Landwirtschaft verbucht (siehe S.52). Wo wurden beispielsweise die Beschäftigten in den Kreisforsten gezählt? Zusätzlich lieh sich die öffentliche Hand in nennenswertem Umfang Zwangsarbeitende aus, ohne ein Beschäftigungsverhältnis zu begründen. Ihr profitabler Anteil an der Zwangsarbeit dürfte sich dadurch noch erhöhen.
  10. Die sogenannten "vertieften Daten" für den Kreis Schleswig liefern trotz der Verkleinerung des Bezugsrahmens keine genaueren Erkenntnisse:
    • Zum vergleichsweise geringen Anteil von Ostarbeitern und Polinnen im Kreis Schleswig führt U. Danker aus: "Auch diese signifikante Abweichung signalisiert vor allem eines: die jeweils an örtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen und am 'Angebot' orientierte Versorgung mit Arbeitskräften, also die Rationalität und Zielgerichtetheit des Zwangsarbeitseinsatzes von Ausländern während des Zweiten Weltkrieges."(S.99) Natürlich richteten die Firmen und das Arbeitsamt ihre Einstellungspraxis nach "Rationalität" und "Angebot" aus. Das war vor dem Krieg so, ist heute so und kann im Sinne eines erfolgreichen Wirtschaftens auch nicht anders sein. Aber, was waren nun die besonderen Bedingungen, dass im Vergleich zu anderen Regionen im Kreis Schleswig so wenige Polinnen und so wenige Ostarbeiter eingesetzt wurden? Eine Antwort auf diese Frage gibt es nicht.
    • Der hohe Anteil der Ostarbeiterinnen bzw. der niedrige Anteil von Polinnen und Däninnen im Kreis Schleswig wird folgendermaßen erklärt: "Insgesamt unterstreicht diese örtliche statistische Verteilung der Geschlechter das oben gesagte über die Rationalität des Ausländereinsatzes, aus der auf lokaler Ebene durchaus signifikante 'Verzerrungen' resultieren können."(S.116) Folgt man den weiteren Ausführungen des Autors, so sind ihm die Betriebe bekannt, in denen die Zwangsarbeiterinnen eingesetzt wurden. Eine detailliertere Erklärung für die Abweichung müsste also möglich sein. Der Autor verbleibt aber im Allgemeinen. Konkretere Erklärungsansätze gibt es nicht.
    • Vor diesem Hintergund erscheint es doch sehr widersprüchlich, wenn der insgesamt geringere Frauenanteil im Kreis Schleswig und der große Anteil von Holländern auf Föhr von den Gutachtern ausdrücklich nicht mit der "Rationalität des Arbeitseinsatzes" begründet werden: Für den geringen Frauenanteil im Kreis Schleswig wird die "statistische Verteilung der nationalen Herkunft"(S.90) [42] als Erklärung herangezogen und über die Situation auf der Insel Föhr wird vermutet: "Ob nord- und westfriesische Beziehungen hier eine Ursache liefern, sei dahingestellt."(S.116) Oder waren es vielleicht doch eher die besonderen Kenntnisse in der Fisch- bzw. Muschelverarbeitung, die hier eine Rolle gespielt haben, spekuliert der Rezensent.
    • Aufgrund der ausgewerteten AOK-Listen [43] kommt U. Danker auf S.123 u.a. zu dem Schluss, dass auf jedem sechsten Bauernhof im Kreis Schleswig keine Ausländer beschäftigt wurden. Hierbei ist allerdings nicht berücksichtigt worden, dass die AOK die Kriegsgefangenen in ihren Listen nicht erfasste. [44] Angesichts der Möglichkeit ihres Arbeitseinsatzes in der Landwirtschaft entbehren diese statistischen Erkenntnisse somit einer verlässlichen Grundlage.

  11. Die Behauptung, dass "bisher nirgends auch nur annähernd so präzise"(S.89) Antworten zu Fragen der Altersstruktur und Aufenthaltsdauer von Zwangsarbeitenden in Schleswig-Holstein gegeben werden konnten, ist für die Altersstruktur so nicht haltbar: Bereits die Erhebungen von Horst Peters, des Industriemuseums in Elmshorn und von Nobert Fick für Ahrensbök liefern entsprechende Berechnungen.[45] Die Staatsexamensarbeit von M. Derner, die seit einiger Zeit abgeschlossen und im Gutachten zuerst veröffentlicht worden ist, enthält ebenfalls Angaben zur Altersstruktur der Zwangsarbeitenden. Auch vor Ort (und nicht nur mit diversen Sondergenehmigungen ausgestattet) lassen sich vergleichbare Ergebnisse erzielen. Der lokalhistorisch interessierte Forscher sollte sich deshalb von der obigen Aussage nicht irritieren lassen. Weitere Untersuchungen sind dringend notwendig.

FORTSETZUNG 5


[37] U. Herbert: Fremdarbeiter, a.a.O., S.266.

[38] Ebd., S.267.

[39] In diesem Zusammenhang wäre überprüfenswert, inwieweit sich Veränderungen in den Arbeitsamtsstatistiken dadurch ergeben haben, dass viele Selbständige (mit Familienbetrieben im Handwerk und in der Landwirtschaft), die anders (korrigiert 22.7.01) vom Arbeitsamt gezählt worden sind, im Verlauf des Krieges durch Zwangsarbeitende ersetzt wurden. Hat sich die Anzahl der vom Arbeitsamt erfassten Arbeitsplätze durch die Einberufung von Selbständigen zur Wehrmacht erhöht?

[40] In welchem Umfang solche Verlagerungen erfolgten, muss hier offen bleiben, hätte aber diskutiert werden müssen. Allein für Rendsburg sind es einige Hundert Zwangsarbeiter, die auf diese Weise in die Stadt gekommen sind.

[41] Für die Kriegsgefangenen berücksichtigt er die Zeit erst ab dem 1.9.1941.

[42] Welche Gründe sprechen für diese besondere statistische Verteilung?

[43] Ob für die Berechnungen für den Kreis Schleswig überprüft worden ist, inwieweit es andere Krankenkassen als Versicherungsträger gab, ist nicht ersichtlich. In Schleswig-Holstein existierten 1939 insgesamt 61 Pflichtkrankenkassen mit 456839 Mitgliedern im Jahresdurchschnitt (298831 Männer, 158008 Frauen). Im Einzelnen waren das 25 Ortskrankenkassen (322084 Mitglieder), 12 Landkrankenkassen (62029 Mitglieder), 18 Betriebskrankenkassen (65835 Mitglieder) und 6 Innungskrankenkassen (6891 Mitglieder). Die Mitglieder der knappschaftlichen Krankenkassen, der Ersatzkassen und der See-Krankenkasse konnten nicht auf die einzelnen Gebiete aufgeteilt werden. (Statistischen Reichsamt, Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, S. 510f.)

[44] Vgl. im Gutachten, S.116, Vermerk 48.

[45] H. Peters in: "Verschleppt zur Sklavenarbeit", a.a.O., S.116ff.;

Elmshorn: Das Anzeigenblatt "Blickpunkt" vom 14.5.1997;

Die Untersuchungen von Nobert Fick, die R. Schwarz vor vielen Jahren von U. Danker zugeschickt wurden, sind gerade veröffentlicht worden (in Jörg Wollenberg: Ahrensbök - Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus. Konzentrationslager - Zwangsarbeit - Todesmarsch. Edition Temmen, Bremen 2001).

Wünschenswert wäre es gewesen, diese und andere Daten vergleichend mit heranzuziehen.